VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 11.05.2005 - 1 A 361/01 - asyl.net: M6582
https://www.asyl.net/rsdb/M6582
Leitsatz:

Gefahr der Verfolgung in Vietnam bei oppositioneller Tätigkeit jeder Art.

 

Schlagwörter: Vietnam, Verfolgungsbegriff, Oppositionelle, begründete Furcht, Menschenrechtsverletzungen, Vorladung, Polizei, Demonstrationen, Festnahme, Folter, Entlassung, Administrativhaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4
Auszüge:

Gefahr der Verfolgung in Vietnam bei oppositioneller Tätigkeit jeder Art.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG liegen hier vor, weil die geltend gemachte Bedrohung der Klägerin bei und nach einer Rückkehr nach Vietnam mit der erforderlichen, aber auch ausreichenden "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" droht.

1. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung seiner Menschen würde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004). Soweit diese Regelung voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland "bedroht" ist, lässt sie erkennen, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss und die bloße, selbst durch Präzedenzfälle bestätigte Möglichkeit allein noch nicht ausreicht. Andererseits reicht im Rahmen der erforderlichen Prognose eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt künftiger politischer Verfolgung aus, so dass insoweit nicht etwa eine "Sicherheit" gegeben sein muss. Diese Wahrscheinlichkeit ist dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und daher gegenüber den dagegen sprechenden Umständen auf der Grundlage einer Wertung überwiegen (BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 -).

2. Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es stets auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (über Mindestnormen) - Amtsblatt der EU v. 30.9.04 - L 304/12 ff. - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland", aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f).

3. Im vorliegenden Fall ist auf diesem Hintergrund einer überaus negativ einzuschätzenden Menschenrechtslage in Vietnam - einschließlich der Weigerung einer parteiabhängigen Justiz, Rechtsschutz gegen staatliche Maßnahmen zu gewähren - zugunsten der Klägerin zunächst davon auszugehen, dass die im Bescheid offenbar mit europäischen Maßstäben beurteilte "Vorladung" der vietnamesischen Polizei auf dem dargestellten Hintergrund eine andere "Angriffsqualität" hatte als im Bescheid (S.5/6) angenommen: Die Klägerin hatte sich in ihrem Betrieb bei einer Firmenversammlung gegen "Ausbeutung und Bestechung" gewandt, was sofort - offenbar zur Verwendung gegen die Klägerin - schriftlich festgehalten wurde. Anschließend wurde das Gehalt der Klägerin gekürzt und ihr Arbeits- und Zuständigkeitsbereich eingeschränkt (Anhörung v. 23.10.01, S. 4). Danach wurde sie in ihrer Firma "unter Druck gesetzt", schließlich sogar im September 2001 entlassen. Als die Klägerin daraufhin vor ihrer Firma zusammen mit anderen eine Demonstration gegen die Firma veranstaltete, erschien die Polizei und löste die Demonstration mittels Festnahme dessen auf, der die Demonstration organisiert hatte. Dieser wurde 3 Tage verhört und gefoltert, bis er die Namen anderer Demonstrationsteilnehmer preisgegeben hatte. Im Anschluss hieran erhielt die Klägerin dann ihre Vorladung für den 9. September 2001, die nach dem Geschehensablauf und angesichts dessen, dass die staatlichen Organe einschließlich der Polizei in Vietnam eine nahezu grenzenlose Willkürherrschaft ausüben können, eine von der Klägerin zutreffend eingeschätzte Bedeutung und "Angriffsqualität" hatte: Die Klägerin war ganz erheblich negativ aufgefallen und erschien den staatlichen Organen völlig unangepasst und damit überaus verdächtig.

Es ist weiterhin davon auszugehen, dass ihre Kündigung selbstverständlich politisch motiviert war, die Firmenleitung mit der vietnamesischen Partei, die in Vietnam alles kontrolliert, zusammengearbeitet hat. Damit hat die Klägerin durch eine asylrelevante Vernichtung ihrer Existenzgrundlage (übereinstimmend: S. 4 des angefochtenen Bescheides) bereits in ihrer Heimat einen "sonstigen ernsthaften Schaden" erlitten (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG), was als "ernsthafter Hinweis" darauf zu werten ist, dass die Verfolgungsfurcht der Klägerin auch für die Zukunft begründet ist (Art. 4 Abs. 4 der gen. Richtl.). Hierbei kommt der Klägerin zugute, dass ihre Aussagen "kohärent und plausibel" erscheinen und die Klägerin nach dem Gesamteindruck, den sie bei der Anhörung im Bundesamt gemacht hat, offenbar glaubwürdig ist (Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2004/83/EG). Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes im Asylverfahren für Vorgänge im Heimatstaat reicht das aus.

4. Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2.1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Die Präsidenten der "Volkskomitees" auf Provinzebene dürfen hiernach jede Person bis zu 2 Jahren ohne Gerichtsverfahren inhaftieren - und auch verbannen (AA Lagebericht v. 12.2. 2005, S. 6). Es ist allerdings unklar, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die unstreitig existierenden Arbeits- und Verbannungslager verbracht und dort - durch welche Methoden auch immer - "abgestraft" werden. Angesichts des Verhaltens der Klägerin in ihrer Firma nebst Demonstration vor ihrer Firma liegt es unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten sehr nahe, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr - wie befürchtet - mit einer längeren Administrativhaft oder vergleichbaren Maßnahmen belegt werden wird.

Die Gefahr einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG besteht dabei generell für Personen, die in Opposition zur gegenwärtigen Regierung und herrschenden Ideologie stehen und öffentlich Aktivitäten unternehmen bzw. (wie die Klägerin) bereits unternommen haben - Aktivitäten, die gegen die Regierung und deren Linie, die Kommunistische Partei, die Einheit des Staates oder das internationale Ansehen Vietnams gerichtet sind. Im Falle eines auffälligen, inhaltlich regimekritischen, von der Parteidoktrin abweichenden Verhaltens kann unter diesen Umständen die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung - mit der erforderlichen Beachtlichkeit - ohne weiteres angenommen werden (vgl. dazu OVG Saarland, aaO.; vgl. die Äußerungen des vietn. Dissidenten Doan Viet Hoat lt. FR v. 6.2.1999; vgl die ai-Stellungnahme v. 2.2.1999).