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VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 01.03.2005 - A 2 K 30653/04 - asyl.net: M6588
https://www.asyl.net/rsdb/M6588
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Christen, Widerruf, Genfer Flüchtlingskonvention, UNHCR-Richtlinie, UNHCR, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Baath, Übergriffe, Gruppenverfolgung, zwingende Gründe, Abschiebungshindernis, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Nordirak, interne Fluchtalternative
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; GFK Art. 35; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Der streitgegenständliche Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG stützt sich auf die Rechtsgrundlage des § 73 AsylVfG in der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Fassung, auch wenn zum 1.1.2005 § 51 AuslG durch § 60 Aufenthaltsgesetz ersetzt wurde. Die neue Rechtslage ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auch bei Anfechtungsklagen gegen Bundesamtsentscheidungen, die vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes ergangen sind, anzuwenden.

3. Auf der Grundlage dieser Interpretation stimmt der Regelungsgehalt des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auch mit dem Inhalt der "Beendigungsklausel" in Artikel 1 C Nr. 5 GK überein.

a) Nach Art. 1 C Nr. 5 GK fällt eine Person nicht mehr unter die Genfer Flüchtlingskonvention, wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Die Kammer folgt nicht der zum Teil in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, Art. 1 C Nr. 5 GK sei im Widerrufsverfahren nicht (unmittelbar) anzuwenden (vgl. OVG Magdeburg, Beschl. v. 26.7.2004 - 1 L 270/04 -, Asylmagazin 2004, 36). Die vorbezeichnete Bestimmung der Genfer Flüchtlingskonvention, der die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG durch Bundesgesetz zugestimmt hat, ist unmittelbar anwendbares Recht. Wie das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat (Urt. v. 4. Juni 1991 - 1 C 42/88, InfAuslR 1991, 305 [306]), führt die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein Zustimmungsgesetz zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsnorm, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, dafür also keiner weiteren normativen Ausfüllung bedarf. Diese Voraussetzungen liegen bei den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention vor (BVerwG Urt. v. 4.6.1991 - 1 C 42/88, InfAuslR 1991, 305 [306] m.w.N.).

Art 1 C Nr. 5 GK verlangt neben der grundlegenden Änderung der Umstände im Herkunftsland, dass auch unter den neuen Gegebenheiten keine politische Verfolgung droht. Eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände reicht nicht aus. Die Zumutbarkeit der Rückkehr setzt daher voraus, dass nach grundlegenden und dauerhaften Änderungen der Umstände ein Staat existiert, in dem der nicht mehr Asylberechtigte vor drohender politischer Verfolgung geschützt ist. Insoweit stimmen diese Regelungen mit den bereits dargelegten Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG überein und bieten keinen über die genannte Vorschrift hinausgehenden Schutz.

Mit anderem Ergebnis vertritt der UNHCR, der gemäß Art. 35 GK von der Staatengemeinschaft mit der Überwachung, Umsetzung und Einhaltung der GK beauftragt ist, die Auffassung, dass Beurteilungsmaßstab für die Wiederherstellung des Schutzes das Vorhandensein einer funktionierenden Regierung und grundlegender Verwaltungsstrukturen, wie sie beispielsweise in einem funktionierenden Rechtsstaat vorlägen, sowie das Vorhandensein einer angemessenen Infrastruktur, innerhalb derer die Einwohner ihre Rechte ausüben könnten, einschließlich ihres Rechtes auf eine Existenzgrundlage, sei. Insbesondere sei darauf abzustellen, dass anerkannte Konventionsflüchtlinge nicht zur Rückkehr in instabile Verhältnisse gezwungen werden sollen. "Schutz" im Sinne des Flüchtlingsabkommens sei nicht nur der Schutz vor Verfolgung, sondern auch vor allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Die Berücksichtigung dieser Überlegungen gewährleiste, dass Flüchtlinge nicht unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren müssten, die möglicherweise zu einer neuerlichen Flucht und der Notwendigkeit der Flüchtlingsanerkennung führen würde (UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Art. 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, NVwZ Beilage Nr. 18/2003, S. 58 f).

Die Kammer vermag sich dieser vom UNHCR gewählten Auslegung nicht anzuschließen. Es wird nicht in Abrede gestellt, dass die Richtlinien und Stellungnahmen des UNHCR - gerade wegen seiner in Art. 35 GK bestimmten Funktionen - als Auslegungshilfen heranzuziehen sind. Diese sind jedoch für die Gerichte nicht alleiniger Maßstab. Vielmehr müssen darüber hinaus im Rahmen der Auslegung des Vertragstextes der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, die Systematik und der Sinn und Zweck der Regelung herangezogen werden. Die Auslegung des UNHCR geht dabei deutlich über den Wortlaut hinaus. Sie entspricht auch nicht der Systematik und dem Sinn und Zweck des Art. 1 C Nr. 5 GK. Die Worte "Schutz des Landes" haben in Art. 1 C Nr. 5 GK keine andere Bedeutung als in Art. 1 A Nr. 2 GK, der die Flüchtlingseigenschaft definiert. "Schutz des Landes" meint den Schutz des Staates vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Überzeugung. Allgemeine Gefahren sind davon nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 1 A Nr. 2 GK nicht erfasst. Da Art. 1 C die Beendigung des Flüchtlingsstatus im Sinne von Art. 1 A Nr. 2 GK regelt, kann mit dem Wort "Schutz" nur der Schutz vor politischer Verfolgung gemeint sein. Diese Auslegung wird durch Art. 1 C Satz 2 GK gestützt, der wiederum eine Ausnahme von Satz 1 darstellt. Nach dieser Vorschrift fällt auch diejenige Person unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention, die sich trotz Wegfall der Umstände nach wie vor auf zwingende, auf früheren "Verfolgungen" beruhende Gründe - wie beispielsweise psychische Beeinträchtigungen infolge bereits erlittener politischer Verfolgung - berufen kann. Auch hieraus wird deutlich, dass Art. 1 C an das Kriterium der politischen Verfolgung anknüpft. Der Schutz vor allgemeinen Gefahren findet hingegen keine Stütze im Wortlaut und im systematischen Zusammenhang des Textes.

Im Ergebnis der Auslegung ist also im Widerrufsverfahren zu prüfen, ob konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der anerkannte Flüchtling trotz Wegfalls der Umstände, die zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, politische Verfolgung zu befürchten hat. Die Frage effektiven Schutzes, d.h. wirksamer staatlicher Schutzgewährleistung, stellt sich demnach nur, wenn der Ausländer eine begründete Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsland geltend machen kann (vgl. BayVGH, Beschl. v. 8.8.2004, InfAuslR 2005, 43 [44] und Beschl. v. 22.11.2004 - 13a ZB 04.30978-, zit. nach JURIS-Asylis; im Ergebnis so auch VGH Mannheim, Beschl. v. 16. 3.2004 - A 6 S 219/04 -, NVwZ-RR 2004, 790 f., VG Ansbach, Urt. v. 23.9.2004 - AN 4 K 04.31270 -; VG Göttingen, Urt. v. 29.9.2004 - 2 A 42/04 -; jeweils zitiert nach JURIS). Andernfalls hätte dies zur Folge, dass bei grundlegendem und dauerhaftem Wegfall der ursprünglichen Bedrohung allein die allgemeine, noch nicht für die Zukunft im Einzelnen absehbare Entwicklung in einem Land über die Beendigung der - wegen politischer Verfolgung bestehenden - Flüchtlingseigenschaft bestimmt. Es ist zu bezweifeln ob diese weitgehenden Anforderungen an die Beendigung des Flüchtlingsstatus dem Willen der Unterzeichnerstaaten des Abkommens vom 28. Juli 1951 und dem Sinn und Zweck dieser Regelungen, die gerade den Schutz vor politischer Verfolgung zum Gegenstand haben, entspricht. Und nur darauf kommt es in rechtlicher Hinsicht an. Denn nur die Genfer Flüchtlingskonvention in der von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Fassung ist über die Zustimmung des Bundestages in deutsches Recht transformiert worden und kann rechtliche Wirkungen entfalten. Die Kammer verkennt nicht, dass sich bei vielen rechtlichen Regelungen auch Änderungswünsche bestehen und politisch auch angestrebt werden können. Doch diese Wünsche, insbesondere die auf die Erweiterung des Flüchtlingsstatus, und die weitere Verbesserung des Schutzes von Flüchtlingen bis hin zur Aufhebung des Flüchtlingsstatus durch Eingliederung in den aufnehmenden Staat können erst dann zu rechtlichen Ansprüchen werden, wenn sie von den dazu Berufenen in Recht umgesetzt worden sind. Und dies geht nur sehr bedingt durch Interpretation des geltenden Rechts. Hierfür bedarf es rechtlicher Regelungen, die die Genfer Flüchtlingskonvention novellieren. Der UNHCR ist nicht zu einer authentischen Interpretation berufen. Seiner Auslegung kommt daher auch keine verpflichtende Wertung zu. Maßgeblich ist deshalb, ob einem anerkannten Flüchtling aus dem Irak, nachdem die Umstände für die Anerkennung weggefallen sind, weiterhin konkrete politische Verfolgung droht. Den Schutz wegen der allgemeinen Verhältnisse im Heimatland gewährleisten § 60 Abs. 7 Satz 2, § 60a AufenthG.

Auch die Erklärung der GK-Staaten vom 13.12.2001, wonach dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge zu finden seien und die Rückführung in Sicherheit und Würde zu erfolgen habe, führt zu keinem anderem rechtlichen Ergebnis für die Auslegung von Art. 1 C GK. Es handelt sich dabei um eine politische Willensbildung und keine Direktive zur Auslegung konkreter vertraglicher Bestimmungen oder gar um eine Abänderung des geltenden Vertrages. Die Art und Weise der rechtlichen Umsetzung dieser Ziele (beispielsweise durch Absehen von einem Widerruf, erleichterte Einbürgerung oder Gewährung von unbefristeten Aufenthaltstitel, Abschiebungsstopp) wurde im Rahmen der Erklärung vom 13.12.2001 von den Vertragsstaaten gerade nicht verbindlich festgelegt.

Soweit sich der Kläger darauf beruft, als Angehöriger der christlichen Glaubensgemeinschaft im besonderen Maße der Gefahr gewaltsamer Übergriffe durch radikale Muslime ausgesetzt zu sein, führt dies zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Das Gericht verkennt nicht, dass es in der Vergangenheit wiederholt zu Übergriffen auf Christen, wie beispielsweise die Bombenattentate auf Kirchen in Mosul und Bagdad, die Explosionen vor christlichen Geschäften, die Alkohol verkauften, oder Entführungen kam (Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.11.2004). Gleichwohl sind die Übergriffe nicht derartig häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen begründen (vgl. OVG Koblenz, Beschl. v. 15.2.2005 - 10 A 10194/05 - nicht veröffentl.; BayVGH, Beschl. v. 22.11.2004 - 13a ZB 04.30978 zit. n. JURIS-Asylis; OVG Greifswald, Beschl. v. 6.8.2004 - 2 L 19/03 - nicht veröffentl.; VG Regensburg, Urt. v. 10.12.2004 - RN 8 K 04.30785, nicht veröffentl.; VG Ansbach, Urt. v. 23.11.2004 - AN 4 K 04.30569 - zit. n. JURIS). Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen aber nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Kläger die begründete Furcht ableiten lässt, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (BVerwG, Urt. v. 23.7.1991 - 9 C 154.90 -).

Eine Gruppenverfolgung liegt deshalb nur dann vor, wenn die Verfolgungsschläge, von denen die Angehörigen einer Gruppe getroffen werden, in quantitativer und qualitativer Hinsicht so dicht und eng gestreut fallen, dass für jedes Gruppenmitglied die aktuelle Gefahr besteht in eigener Person Opfer von Übergriffen zu werden (BVerwG, Urt. v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 [206]). Diese Voraussetzungen wurden vom Kläger nicht substantiiert darlegt und sind im Übrigen auch nicht ersichtlich. Zudem muss sich Kläger insoweit auf die kurdisch verwalteten Gebiete des Nordiraks als inländische Fluchtalternative verweisen lassen, in denen viele christliche Glaubenszugehörige unbehelligt leben (VG Aachen, Urt. v. 26.8.2004 - A 4 K 1660/02 -, zit. nach JURIS).

5. Schließlich hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Ebenso führt die Klage nicht zum Erfolg, soweit der Kläger zur Begründung auf eine extreme, grundrechtsrelevante Gefährdung durch die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage verweist. Diese Frage kann letztlich dahinstehen, denn jedenfalls würde eine durch die allgemeine Situation bedingte extreme Gefährdung für zurückkehrende Asylsuchende zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG rechtfertigen, da irakische Asylsuchende aufgrund der derzeitigen Erlasslage anderweitigen und gleichwertigen Abschiebungsschutz genießen. Das Sächsische Staatsministerium des Innern hat die Regierungspräsidien des Freistaates Sachsen zuletzt mit Schreiben vom 22.12.2004 (Az. 46-1368/26) angewiesen, Duldungen ausreisepflichtiger irakischer Staatsangehöriger für mindestens drei, regelmäßig jedoch für sechs Monate auszustellen.