VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 26.04.2005 - 3 K 2207/99.A - asyl.net: M6594
https://www.asyl.net/rsdb/M6594
Leitsatz:

Keine Gefährdung allein wegen früherer Mitgliedschaft in DVPA; nach Afghanistan zurückkehrenden Frauen ist es zumutbar, sich allgemein geltenden Bekleidungsvorschriften und Verhaltensregeln anzupassen; Tötungen bei Familienstreitigkeiten oder Übergriffe gegen alleinstehende Rückkehrinnen knüpfen nicht an ein asylerhebliches Merkmal an.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, DVPA, KHAD, Kommunisten, Flüchtlingsfrauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Soziale Gruppe, Bekleidungsvorschriften, Existenzminimum, Berufsverbot, Ehebruch, Mord, Familie, Alleinstehende Frauen, Blutrache, Vergewaltigung, Übergriffe, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine Gefährdung allein wegen früherer Mitgliedschaft in DVPA; nach Afghanistan zurückkehrenden Frauen ist es zumutbar, sich allgemein geltenden Bekleidungsvorschriften und Verhaltensregeln anzupassen; Tötungen bei Familienstreitigkeiten oder Übergriffe gegen alleinstehende Rückkehrinnen knüpfen nicht an ein asylerhebliches Merkmal an.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG liegt für die Kläger nicht vor. Dabei kann offen bleiben, ob die von den Klägern befürchtete Verfolgung von Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a), b) oder c) AufenthG ausgehen würde, denn die Kläger haben im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan keine Gefährdung von Leben oder Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung (§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und auch nicht in Anknüpfung allein an das Geschlecht (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) zu befürchten.

Allein die Mitgliedschaft in der DVPA ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) nicht mehr geeignet, die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit zu begründen. Dafür, dass die Regierung Afghanistans unter dem Präsidenten Karzai frühere Anhänger der kommunistischen Regierung verfolgt, gibt es keine Anhaltspunkte. Allein der Mitgliedschaft in der DVPA ist für die Gefahr der Verfolgung keine besondere Bedeutung mehr beizumessen (Deutsches Orientinstitut, Gutachten vom 23.09.2004, S.11 f). Eine Gefährdung hochrangiger früherer Repräsentanten der DVPA bzw. herausragender Militärs und Polizeirepräsentanten sowie des Geheimdienstes KHAD durch fundamentalistische Mudjaheddingruppierungen und Dritte kann aber als mögliche Reaktion auf frühere Menschenrechtsverletzungen nicht ausgeschlossen werden (AA v. 22.04.2004, S. 17 f.). Die Einschätzung der Verfolgungsgefahr hat auf individueller Basis zu erfolgen. Ob im konkreten Einzelfall früheren Mitarbeitern der des kommunistischen Regierung oder früheren Angehörigen der DVPA Gefahren drohen, hängt nach der Auskunftslage für Afghanistan und der Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ab vom Ausmaß der Identifizierung des Betreffenden mit der Ideologie, seinem Rang oder der Position, die er im Militär, in dem Geheimdienst oder in der DVPA bekleidet hat, seinem Bildungsstand, den Bindungen innerhalb seiner Familie, weiter davon, ob er Menschenrechtsverletzungen begangen hat oder an Übergriffen auf die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen ist, und davon, ob er und seine Taten in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. In Anbetracht des weiteren zeitlichen Abstands zum Ende der kommunistischen Herrschaft im April 1992, dürfte wer in der Zeit von 1992 - 1996 in Afghanistan unbeschadet gelebt hat, nicht mehr gefährdet sein (Deutsches Orientinstitut, Gutachten vom 23.09.2004, S.11 f., AA v. 22.04.2004, UNHCR v. 23.04.2003, SFH Update vom 03.03.2003, S.13; Dr. Danesch v. 18.02.2003 und 05.08.2002; Glatzer vom 26.08.2002, Ziffer 31 Country Report by the Netherlands aus August 2002, Report on a fact finding mission September/Oktober 2002, S.19 ff.).

Eine Gefährdung der Kläger wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu den Tadschiken kann nicht festgestellt werden. Für eine Gefährdung der Volksgruppe der Tadschiken, die unter der Herrschaft der überwiegend paschtunischen Taleban mitunter Repressalien ausgesetzt waren, ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte. Die Tadschiken stellen mit ca. 25 % eine der größten Bevölkerungsgruppen Afghanistans dar. Die Tadschiken sind auch in der Regierung repräsentiert. Von Übergriffen auf Tadschiken in Kabul ist nichts bekannt. Tadschiken, haben heute, jedenfalls in Kabul, wohin die Kläger zurückkehren könnten, keine Gefahren für Leib Leben oder Freiheit zu befürchten (Dr. Danesh, Gutachten vom 24.07.2004, S. 37; Deutsches Orientinstitut, Gutachten vom 23.09.2004, S.11; AA, Lagebericht vom 22.04.2004, S. 16 f., Gutachten vom 17.02.2004, S. 3).

Die Klägerin zu 1. hat auch nicht allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit politische Verfolgung in Afghanistan zu befürchten.

Dass die Klägerin zu 1. sich möglicherweise an die Lebensverhältnisse in Deutschland angepasst hat, begründet keine Gefahr der politischen Verfolgung bei einer Rückkehr nach Afghanistan und damit kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 AufenthG wonach eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung der Rechtsgüter allein an das Geschlecht anknüpft. Die von den Taleban erlassenen Verbote, insbesondere betreffend die Freizügigkeit, die Ausbildung und die Arbeitsmöglichkeit sind formal aufgehoben und nicht mehr in Kraft (AA, Lagebericht vom 06.08.2003). Außerhalb der Städte hat sich die Situation für die weibliche Bevölkerung seit vielen Jahren zwar nur wenig verändert. In den Städten ist die Veränderung dagegen spürbar. Es konnten zahlreiche Mädchenschulen eröffnet werden. Besonders für die hochqualifizierten Afghaninnen hat sich der Zugang zu adäquaten Tätigkeiten verbessert. Die neue Verfassung gesteht Frauen und Männern die gleichen Rechte zu. Die verbleibenden traditionell und gesellschaftlich begründeten Beschränkungen, die die Frauen in Afghanistan hinsichtlich der Bekleidung, der Ausbildung und beruflichen Betätigung hinzunehmen haben, stellen aber keinen Eingriff in die von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG geschützten Rechte dar. Beschränkungen der persönlichen Freiheit können nur dann einen relevanten Eingriff begründen, wenn sie so erheblich sind, dass sie einen Eingriff in die Menschenwürde darstellen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerfG Beschluss vom 20.05.1992, InfAuslR 9/92, S. 283 m.w.N.). Diese Intensität der Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit wird nach der beschriebenen sich aus den Erkenntnismitteln des Gerichts ergebenden Lage nicht ersichtlich. Zwar sind Strafen, die nach dem religiösen islamischen Recht beispielsweise im Falle der Weigerung einer Frau, den Schleier zu tragen, verhängt werden können, menschenunwürdig und können zur Verletzung der genannten Rechtsgüter führen. Ob solche Bestrafungen auch heute noch in Afghanistan, insbesondere in Kabul ausgesprochen und vollstreckt werden, kann jedoch offen bleiben. Denn es ist einer Muslimin in Afghanistan zumutbar, die dort allgemein geltenden Bekleidungsvorschriften und den Verhaltenskodex im öffentlichen Leben zu beachten, und zwar unabhängig davon, ob sie früher in Afghanistan oder nach ihrer Flucht in Deutschland von westlichen Idealen geprägt gelebt und diese verinnerlicht hat. Maßgeblich ist nämlich nicht die subjektive Sicht der einzelnen Frau. Vielmehr muss hier ein objektiver Maßstab angelegt werden, der sich daran orientiert, was im Heimatland der Betroffenen als das herrschende Wertesystem anzusehen ist. Bei der asylrechtlichen Beurteilung einer fremden Rechtsordnung kann diese nicht am weltanschaulichen Neutralitäts- und Toleranzgebot des Grundgesetzes gemessen werden, denn es ist nicht Aufgabe des Asylrechts, die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in anderen Staaten durchzusetzen. Eine Verletzung der Menschenwürde von Frauen, die sich der islamischen Verpflichtung einen Schleier zu tragen unterwerfen müssen, ist nicht zu erkennen (Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.05.2002, Az: 6 A 10217/02, zitiert nach juris). Das gleiche gilt hinsichtlich einer beruflichen Tätigkeit in Afghanistan. Da sich die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten gerade in den Städten verbessert haben und kein grundsätzliches Frauenarbeitsverbot mehr besteht, kann für Klägerin zu 2. nicht davon ausgegangen werden, dass die Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit dazu führt, dass das Exis-tenzminimum nicht mehr gewährleistet ist (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20.10. 1987, InfAuslR 1/88). Vielmehr ist es insgesamt in Afghanistan für Zurückkehrende ohne Familienanschluss schwierig, eine Tätigkeit zu finden, die es ermöglicht, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, so dass es sich bei der fehlenden Möglichkeit zur eigenen Existenzsicherung um die konkrete Ausprägung einer allgemeinen Gefährdung im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG handelt, die im Rahmen von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht zu beurteilen ist.

Die Klägerin zu 1. hat auch nicht wegen der behaupteten Bedrohungen durch ihre Familie eine allein an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten.

Soweit sie vorträgt, dass es wahrscheinlich sei, dass sie in Afghanistan wegen Ehebruchs angezeigt und auf Grund dieser Tatsache ins Gefängnis gelangen werde, folgt das Gericht dieser Einschätzung nicht.

Der Tötung im Rahmen einer Familienstreitigkeit fehlt zudem der politische Charakter, sie würde nicht in Anknüpfung an ein in § 60 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG genanntes Merkmal erfolgen, sondern hat privaten Charakter.

Auch die nach der Auskunft des Dr. Danesh vom 8. Juli 2004 an das VG Hamburg einer geschiedenen allein zurückkehrenden Frau drohenden Gefahren von Vergewaltigung und ggf. Tötung zur Vertuschung der Tat sind nicht geeignet, eine politische Verfolgung der Klägerin zu 1. i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu begründen.

Denn für die Annahme einer politischen Verfolgung ist es erforderlich, dass die in Rede stehende Maßnahme den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen soll. Dabei ist die spezifische Zielrichtung der jeweiligen Verfolgungsmaßnahme anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen. Dies kann für die Gefahren, die einer alleinstehenden Rückkehrerin in Form von körperlichen Übergriffen drohen, nicht festgestellt werden. Vielmehr werden hier Straftaten verübt, die nicht politisch motiviert, sondern Ausdruck der allgemeinen Sicherheitslage, die sich besonders fatal auf unbeschützte Rückkehrerinnen auswirkt, sind. Andere Übergriffe etwa in der Art, dass alleinstehende Frauen wegen ihres und zweckgerichtet in Anknüpfung an ihren Personenstand Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit zu befürchten haben, sind nicht bekannt.