OVG Sachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 04.05.2005 - A 2 B 524/04 - asyl.net: M6598
https://www.asyl.net/rsdb/M6598
Leitsatz:

1. Der Abfall vom Islam (Apostasie) ist nicht nach kodifiziertem iranischem Strafrecht, jedoch nach islamischem Recht mit Strafe bedroht. Nach der im Iran geübten Rechtspraxis droht jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen des in Deutschland erfolgten Übertritts zum christlichen Glauben die Gefahr, in asylrelevanter Weise nach religiösem Recht bestraft oder sonst verfolgt zu werden.

2. Das religiöse Existenzminimum eines in Deutschland vom moslemischen zum christlichen Glauben übergetretenen iranischen Staatsangehörigen ist im Falle der Rückkehr in den Iran auch dann gewahrt, wenn der Apostat dort seinen neuen christlichen Glauben ausüben und nicht verleugnen will.

3. Iranischen Staatsangehörigen droht bei Rückkehr in ihr Heimatland wegen in Deutschland erfolgter Missionierungsaktivitäten nur dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung, wenn die missionarische Tätigkeit in herausgehobener Funktion, die nach außen erkennbar ist, ausgeübt wird oder sich die missionarische Tätigkeit aus sonstigen Gründen ausnahmsweise aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles in vergleichbarer Weise deutlich von der missionarischen Tätigkeit anderer Apostaten abhebt. Missionarische Aktivitäten in Deutschland innerhalb der jeweiligen Kirchengemeinde ohne hervorgehobene Funktion, im Freundes- und Bekanntenkreis oder in Form des Ansprechens fremder Personen auf den christlichen Glauben vermögen hingegen die Gefahr politischer Verfolgung im Falle der Rückkehr in den Iran nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu begründen.

 

Schlagwörter: Iran, Apostasie, Konversion, Christen, Zeugen Jehovas, Religiös motivierte Verfolgung, Religiöses Existenzminimum, Missionierung, exilpolitische Betätigung, Scharia, Anerkennungsrichtlinie, Antragstellung als Asylgrund
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

1. Der Abfall vom Islam (Apostasie) ist nicht nach kodifiziertem iranischem Strafrecht, jedoch nach islamischem Recht mit Strafe bedroht. Nach der im Iran geübten Rechtspraxis droht jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen des in Deutschland erfolgten Übertritts zum christlichen Glauben die Gefahr, in asylrelevanter Weise nach religiösem Recht bestraft oder sonst verfolgt zu werden.

2. Das religiöse Existenzminimum eines in Deutschland vom moslemischen zum christlichen Glauben übergetretenen iranischen Staatsangehörigen ist im Falle der Rückkehr in den Iran auch dann gewahrt, wenn der Apostat dort seinen neuen christlichen Glauben ausüben und nicht verleugnen will.

3. Iranischen Staatsangehörigen droht bei Rückkehr in ihr Heimatland wegen in Deutschland erfolgter Missionierungsaktivitäten nur dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung, wenn die missionarische Tätigkeit in herausgehobener Funktion, die nach außen erkennbar ist, ausgeübt wird oder sich die missionarische Tätigkeit aus sonstigen Gründen ausnahmsweise aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles in vergleichbarer Weise deutlich von der missionarischen Tätigkeit anderer Apostaten abhebt. Missionarische Aktivitäten in Deutschland innerhalb der jeweiligen Kirchengemeinde ohne hervorgehobene Funktion, im Freundes- und Bekanntenkreis oder in Form des Ansprechens fremder Personen auf den christlichen Glauben vermögen hingegen die Gefahr politischer Verfolgung im Falle der Rückkehr in den Iran nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu begründen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Kläger keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu der Feststellung, dass in seinem Fall die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG vorliegen, hat.

Der Kläger stützt seine Verfolgungsfurcht allein auf den von ihm in Deutschland erfolgten Übertritt zum christlichen Glauben, seine in Deutschland praktizierten christlichen Aktivitäten im Rahmen der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas sowie den Umstand, dass er als Angehöriger der Zeugen Jehovas aufgrund seiner religiösen Überzeugung gehalten ist, öffentlich zu missionieren und den christlichen Glauben zu propagieren. Aus diesen Gründen droht dem Kläger bei Rückkehr in den Iran nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung.

a) Eine solche droht dem Kläger zunächst nicht wegen des in Deutschland erfolgten Übertritts zum christlichen Glauben.

Der Senat hat im - vom Bundesverwaltungsgericht aus anderen Gründen durch Urteil vom 20.1.2004 - 1 C 9.03 - (BVerwGE 120, 16) aufgehobenen - Urteil vom 10.12.2002 - A 2 B 771/02 - mit ausführlicher Begründung und in Übereinstimmung mit der sonstigen obergerichtlichen Rechtsprechung ausgeführt, dass der Abfall vom Islam (Apostasie) nicht nach kodifiziertem iranischem Strafrecht, wohl aber nach islamischem Recht mit Strafe bedroht ist, dass nach der im Iran geübten Rechtspraxis jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen eines in Deutschland erfolgten Übertritts zum christlichen Glauben die Gefahr droht, in asylrelevanter Weise nach religiösem Recht bestraft oder sonst verfolgt zu werden (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 20.1.2004, aaO). Denn in den letzten Jahren seien Fälle einer asylerheblichen Bestrafung allein wegen des Übertritts zum christlichen Glauben nicht bekannt geworden.

Der Senat hält an seiner Auffassung fest. Zwischenzeitlich erfolgte Auskünfte sowie neuere obergerichtliche Entscheidungen (vgl. zusätzlich zu den im Urteil des Senats vom 10.12.2002 aufgeführten Entscheidungen OVG Saarlouis, Urt. v. 23.10.2002 - 9 R 3/00 -, OVG Hamburg, Urt. v. 29.8.2003 - 1 Bf 11/98.A - und Urt. v. 14.11.2003 - 1 Bf 421/01.A -, OVG Bremen, Urt. v. 10.11.2004 - 2 A 478/03.A -, OVG Münster, Beschl. v. 24.9.2004 - 5 A 2906/04.A - und VGH München, Beschl. v. 7.4.2005 - 14 B 02.30878 -) bestätigen die Richtigkeit der im Urteil vom 10.12.2002 vorgenommenen Einschätzung. Auch eine Gefährdung durch Dritte (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG) ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

b) Der Kläger kann sich zur Begründung des von ihm geltend gemachten Anspruchs auch nicht darauf berufen, dass im Iran für Apostaten das religiöse Existenzminimum nicht gewährleistet sei.

Ein Eingriff in das religiöse Existenzminimum kommt grundsätzlich erst dann in Betracht, wenn die zum Christentum konvertierten Muslime im Iran auch dann mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssten, wenn sie sich zum gemeinsamen Gebet und Gottesdienst mit Gleichgesinnten abseits der Öffentlichkeit zusammenfinden (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.1.2004, aaO). Das ist jedoch nicht der Fall.

Es spricht bereits ganz Überwiegendes dafür, dass Apostaten im Iran die Teilnahme an öffentlichen oder offiziellen Gottesdiensten christlicher Kirchen zwar nicht erlaubt aber dennoch möglich ist. Gemäß der Auskunft des Auswärtigen Amtes erfolgt eine Kontrolle des Teilnehmerkreises an den Gottesdiensten grundsätzlich nicht, weshalb es die Teilnahme von Apostaten an solchen Gottesdiensten nicht für ausgeschlossen hält. Auch das Deutsche Orient-Institut geht davon aus, dass die Teilnahme an solchen Gottesdiensten möglich ist, wenn nicht kontrolliert wird, und berichtet, dass solche Kontrollen derzeit nicht stattfinden. Es stellt aber in den Vordergrund, dass sich die Kontrollpraxis jederzeit ändern könne und die christlichen Kirchen gehalten seien, Muslimen - um solche handele es sich aus iranischer Sicht auch bei den Apostaten - den Zutritt zu Gottesdiensten zu verwehren. Letztlich kann diese Frage der Ermöglichung der Teilnahme an öffentlichen oder offiziellen Gottesdiensten christlicher Kirchen offen bleiben. Wie bereits ausgeführt, kommt ein Eingriff in das religiöse Existenzminimum grundsätzlich erst dann in Betracht, wenn die zum Christentum konvertierten Muslime im Iran auch dann mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssen, wenn sie sich zum gemeinsamen Gebet und Gottesdienst mit Gleichgesinnten abseits der Öffentlichkeit zusammenfinden. Insoweit besteht eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit eindeutig nicht.

Dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas im Iran rechtlich nicht anerkannt ist und es dort keine öffentliche Predigttätigkeit und keine öffentlichen Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas gibt, steht der Wahrung des religiösen Existenzminimums nicht entgegen. Gemäß der Auskunft des Präsidenten der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V. an das Verwaltungsgericht Hamburg werden die Zeugen Jehovas, die im Iran leben und nicht konvertiert sind, nicht verfolgt. Wie oben dargelegt, werden auch Apostaten nicht allein wegen des Glaubenswechsels verfolgt. Es bleibt dem Kläger deshalb unbenommen, Kontakt zu den im Iran lebenden Zeugen Jehovas aufzunehmen und seine Religion gemeinsam mit ihnen abseits der Öffentlichkeit in privatem Rahmen auszuüben. Schließlich ist nach den vorgenannten Auskünften des Auswärtigen Amtes vom 15.12.2004 und des Deutschen Orient-Instituts vom 6.12.2004 im Iran auch die seelsorgerische Betreuung für Apostaten gewährleistet.

Etwas anderes ergibt sich schließlich nicht aus dem Vortrag des Klägers, das religiöse Existenzminimum für einen Angehörigen der Zeugen Jehovas sei gleichzeitig unzertrennbar mit der Möglichkeit für den Betreffenden verknüpft, zu predigen und zu missionieren. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.1.2004 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass staatliche Beschränkungen und Verbote in die Öffentlichkeit hineinwirkender Formen religiöser Betätigung, wie etwa die Missionierung oder das Tragen religiöser Symbole in der Öffentlichkeit, unabhängig davon, ob sie nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft zum unverzichtbaren Inhalt der Religionsausübung gehören, allein noch keine asylrechtlich erhebliche Verfolgung darstellt.

Eine andere rechtliche Beurteilung ist nicht im Hinblick auf Art. 10. Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (ABl. der EU v. 30.9.2004 L 304 S.12) geboten. Zwar haben nach dieser Regelung die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion auch die Teilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind, umfasst. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV allein an die Mitgliedstaaten richten und dass der Einzelne erst nach ihrer Umsetzung durch nationales Recht aus den entsprechenden nationalen Vorschriften berechtigt und verpflichtet wird. Die Voraussetzungen, unter denen sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat unmittelbar auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen kann, liegen hier nicht vor, weil die Umsetzungsfrist der vorgenannten Richtlinie gemäß Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie erst am 10.10.2006 abläuft (vgl. VGH München, Beschl. v. 7.4.2005, aaO).

Dem Kläger droht im Falle der Rückkehr in den Iran auch nicht wegen seiner in Deutschland praktizierten christlichen Aktivitäten im Rahmen der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas einschließlich der missionarischen Tätigkeiten in der Form des Ansprechens von iranischen und afghanischen Personen auf den christlichen Glauben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung.

aa) Der Senat hat im Urteil vom 10.12.2002 ausgeführt, dass im Falle eines in Deutschland erfolgten Übertritts zum christlichen Glauben in Deutschland praktizierte christliche Aktivitäten wie regelmäßige Gottesdienstbesuche und Gespräche mit Gleichgesinnten über Aspekte der christlichen Glaubenslehre auch dann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung begründen, wenn der Übertritt und die christlichen Aktivitäten den iranischen Behörden bekannt sein sollten. Hieran hält der Senat auch unter Berücksichtigung neuerer Auskünfte fest.

d) Schließlich rechtfertigen auch die Stellung des Asylantrags und der mehrjährige Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Annahme, der Kläger werde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr in den Iran einer politischen Verfolgung ausgesetzt sein (vgl. SächsOVG, Urt. 22.9.2000, aaO).