VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 16.07.2004 - 1 A 264/03 - asyl.net: M6624
https://www.asyl.net/rsdb/M6624
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Christen, Apostasie, Konversion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Scharia
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

3. Für die Klägerin liegt jedoch wegen ihres Glaubenswechsels ein Abschiebungshindernis gem. § 51 Abs. 1 AuslG vor.

Eine politische Verfolgung durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe in die Religionsfreiheit ist etwa dann gegeben, wenn den Angehörigen einer religiösen Gruppe unter Androhung von Strafen an Leib, Leben oder Freiheit eine Verleugnung oder gar Preisgabe ihres Glaubens zugemutet wird, oder sie daran gehindert werden, ihren eigenen Glauben, so wie sie ihn verstehen, im privaten Bereich und unter sich zu bekennen. Ein Eingriff in diesen Kern der Religionsfreiheit wäre allenfalls dann asylrechtlich unbeachtlich, wenn etwa die Art und Weise des Bekenntnisses oder der Glaubensbekundung in erheblich friedensstörender Weise in die Lebenssphäre anderer Bürger hinübergriffe oder mit dem Grundbestand des ordre public nicht vereinbar wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.01.2004 = 1 C 9.03).

a) Die Klägerin hat nach Überzeugung des Gerichts ihr Glaubensbekenntnis ernsthaft gewechselt und ist nicht lediglich aus asyltaktischen Gründen der christlichen Glaubensgemeinschaft beigetreten.

b) Aufgrund dieses Glaubenswechsels droht der Klägerin derzeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Dieser Prognose liegen folgende Erkenntnisse und Einschätzungen zugrunde: Die afghanische Bevölkerung besteht zu ca.99 % aus Muslimen. Andere Glaubensgemeinschaften, zu denen vor allem die Sikhs und Hindus gehören, machen nicht mehr als 1 % aus. Christliche Gemeinden existieren mit Ausnahme einer christlichen Kirche auf dem Gelände der italienischen Botschaft in Kabul nicht (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.04.2004 Gz. 508-516.80/3 AFG). Nach Art. 1 der am 25.01.2004 in Kraft getretenen afghanischen Verfassung (Constitution of Afghanistan) - CA - (vgl. englischsprachige Fassung unter www.constitution.afg.com/resrouces/Draft.Constitution.pdf) ist Afghanistan eine islamische Republik. Gemäß Art. 2 Abs. 1 CA ist der Islam Staatsreligion. Angehörige anderer Glaubensrichtungen dürfen ihren Glauben nur innerhalb der durch die Gesetze gezogenen Grenzen ausüben (Art. 2 Abs. 2 CA). Nach Art. 3 CA darf kein Gesetz im Widerspruch zur islamischen Religion stehen. Wie ein afghanisches Gesetz auszulegen ist, bestimmt nach Art. 121 Abs. 2 CA der Supreme Court als höchstes afghanisches Gericht, wobei die Justiz nach dem Gewaltenteilungsprinzip gemäß Art. 116 CA unabhängig ist. Der oberste Richter des Landes, Shinwari, wendet in seinen Urteilen grundsätzlich islamisches Recht an. Im Jahr 2003 hat er zwei Journalisten, die angeblich einen anti-islamischen Artikel geschrieben haben, zum Tode verurteilt mit der Begründung, sie seien Gotteslästerer und hätten gegen den Islam verstoßen (vgl. Gutachten des Dr. Danesch vom 13.05.2001, erstattet gegenüber dem erkennenden Gericht in dem Verfahren 1 A 264/03). Ähnliche Vorwürfe muss auch die Klägerin befürchten. Afghanistan ist ein fundamentalistisch geprägtes Land, in dem die Christen als unrein gelten. Soweit die neue afghanische Verfassung die Religionsfreiheit im Rahmen der Gesetze gewährleistet, ist darin zwar auch das Christentum eingeschlossen, weil der Islam die anderen "Buchreligionen" (Christen und Juden) toleriert. Der Ausübung des christlichen Glaubens ist aber nur solchen Personen gestattet, die einer christlichen Familie angehören und im christlichen Glauben aufgewachsen sind. Ganz anders stellt sich dagegen die Situation der Konvertiten dar. Die Apostasie, d. h. der Abfall vom islamischen Glauben ist das schwerste religiöse Verbrechen, das in der Regel mit dem Tode geahndet wird (vgl. Gutachten des Dr. Danesch vom 13.05.2004). Es ist deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein z. B. der Blasphemie beschuldigter Konvertit von afghanischen Gerichten strengstens bestraft wird. Eine solche Anschuldigung ist auch wahrscheinlich, soweit sich nicht konservative Moslems selbst zu Übergriffen gegen die Klägerin hinreißen lassen.

Soweit auch für Afghanistan keine Referenzfälle von verurteilten Konvertiten vorliegen, mag das zwar daran liegen, dass diese ihr Bekenntnis meist geheim halten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.04.2004, a.a.O.). Nach Einschätzung des Gerichts, die vom Auswärtigen Amt geteilt wird (vgl. Auskunft an das VG Hannover vom 05.04.2004 zum Az. 5 A 1149/00), dürfte die Zahl in Afghanistan lebender Konvertiten allerdings sehr klein sein, da auch ein Verbergen des Glaubenswechsels in der fundamentalistisch geprägten afghanischen Stammesgesellschaft kaum möglich ist (vgl. Gutachten des Dr. Danesch vom 13.05.2004). Die Übertragbarkeit der von amnesty international getroffenen Einschätzung, die den Ausführungen des Dr. Danesch entspricht, zeigt sich auch an dem einzigen bekannt gewordenen Fall eines afghanischen Kommandanten, der sich, wie seine Frau, zum Christentum bekannt hat und daraufhin von seiner eigenen Familie und Vertretern der konservativen Geistlichkeit offen bedroht wurde (vgl. Lagebericht vom 21.04.2004 a. a. O.). Eine von der Rechtslage abweichende Verfassungswirklichkeit, wie beispielsweise im Iran, kann für Afghanistan nicht derzeit festgestellt werden. Nach den oben der Grenzen der Schutzgewährung bei Eingriffen in das religiöse Existenzminimum ist es der Kläger nicht zuzumuten, ihren Glauben geheim zu halten oder zu leugnen, um einer politischen Verfolgung zu entgehen. Abgesehen davon dürfte eine Geheimhaltung auch nur schwer möglich sein, da ein gläubiger Moslem verpflichtet ist, fünfmal täglich zu beten, die Moschee zum gemeinsamen Gebet aufzusuchen und an islamischen Feierlichkeiten teilzunehmen. Zudem müsste die Klägerin bei der Arbeitsaufnahme oder der Beantragung eines Personalausweises ebenfalls ihre Religionszugehörigkeit verleugnen und wahrheitswidrig angeben, Muslimin zu sein, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, sofort Opfer von Übergriffen oder denunziert und bestraft zu werden. Da der Klägerin, wenn ihr kaum geheim zu haltender Glaubenswechsel bekannt wird, eine Inhaftierung und Bestrafung durch afghanische Gerichte droht, die dabei in Ausübung ihre öffentlichen Amtes handeln, sind die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchtenden Übergriffe dem afghanischen Staat zuzurechnen und damit politischer Natur. Das Auswärtige Amt hält Repressionen durch afghanische Behörden sogar gegenüber moslemischen Ehemännern nichtkonvertierter christlich-orthodoxer Ehefrauen russischer Herkunft für nicht ausgeschlossen (vgl. Auskunft an das VG Hannover vom 05.04.2004, a. a. O.).

c) Die vorstehend für wahrscheinlich gehaltene Gefährdungslage besteht nach der Überzeugung des Gerichts derzeit landesweit, so dass die Klägerin nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann.