VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 28.04.2005 - A 2 K 12160/03 - asyl.net: M6678
https://www.asyl.net/rsdb/M6678
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor nichtstaatlicher Verfolgung in Serbien und Montenegro für gemischt-ethnisches Ehepaar.

 

Schlagwörter: Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Entscheidungszeitpunkt, Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Flüchtlingsbegriff, Genfer Flüchtlingskonvention, Anerkennungsrichtlinie, nichtstaatliche Verfolgung, Mischehen, Gemischt-ethnische Abstammung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; RL 2004/83/EG
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor nichtstaatlicher Verfolgung in Serbien und Montenegro für gemischt-ethnisches Ehepaar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann hinsichtlich des Klägers Ziff. 1 jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass ihm bei einer Rückkehr in das Kosovo eine Verfolgung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Damit wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 18.01.1994 - 9 C 48192 -, BVerwGE, 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG erkannte Identität zwischen dem Begriff "politische Verfolgung" und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gilt für § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr. Maßgebend für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist nun der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (so auch: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.; Duchrow, ZAR 2004, 339). Wenn nun in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von "nichtstaatlichen Akteuren" ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen "erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten", so stellt dies einen Perspektivwechsel von der "täterbezogenen" Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten "mittelbaren staatlichen Verfolgung" zur "opferbezogenen" Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der "Zurechnungslehre" zur "Schutzlehre" dar (ebenso: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; vgl. ferner Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 79ff.).

Diese veränderte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich zunächst daraus, dass die beiden auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 AuslG gestützten Argumente, die das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung dafür herangezogen hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff der "politischen Verfolgung" des Art. 16a Abs. 1 GG identisch sind, mit der Formulierung des § 60 Abs. 1 AufenthG entfallen sind. Zur Begründung hatte das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung zum einen die amtliche Überschrift des § 51 AuslG ("Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter") herangezogen. Die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG lautet nun jedoch lediglich: "Verbot der Abschiebung". Zum anderen hatte das Bundesverwaltungsgericht auf § 51 Abs. 2 S. 2 AuslG verwiesen, in dem andere Fälle geregelt waren, "in denen sich der Ausländer auf politische Verfolgung beruft". Diese Vorschrift wurde gestrichen bzw. wurde mit der Regelung des § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG modifizert. Die Änderung des Wortlauts der letztgenannten Vorschrift war möglich, weil die Regelung des § 51 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ersatzlos entfallen ist. Damit wurde - was ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG spricht - das Vorliegen der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vom Vorliegen der Asylberechtigung materiell-rechtlich entkoppelt, auch wenn für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG weiterhin das Bundesamt zuständig und das AsylVfG anwendbar sein soll (§ 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, § 5 AsylVfG); denn dies hängt mit der größeren länderspezifischen Sachkompetenz des Bundesamtes zusammen (vgl. auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Des Weiteren ist aus dem Zusatz in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG ("und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht") zu schließen, dass mit § 60 Abs. 1 AufenthG das im Begriff der "politischen Verfolgung" enthaltene Merkmal der Verantwortlichkeit eines Staates keine Rolle mehr spielen soll. Generell ist in § 60 Abs. 1 AufenthG nur von "Verfolgung" und nicht von "politischer Verfolgung" die Rede.

Die Motive des Gesetzgebers deuten ebenfalls auf eine Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im oben genannte Sinne hin (BT-Drucksache 15/420, S. 91). Zwar entspricht nach diesen § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. In der folgenden Begründung des § 60 AufenthG wird jedoch in Bezug auf die Sätze 3-5 hervorgehoben, dass mit ihnen in zum Teil die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellender, zum Teil erstreckender Weise eine Anpassung an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgen sollte und dass sich Deutschland nunmehr auch insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union anschließt.

Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. "Qualifikationsrichtlinie", ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 Abs. 1 AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - "Inter-Environnement Wallonie ASBL", Sig. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der "politischen Verfolgung" im Sinne der sog. "Zurechnungslehre", sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. "Schutztheorie" aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).

Auch dem bereits genannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - ist zu entnehmen, dass das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls davon ausgeht, dass gem. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG nunmehr (politische) Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann (s. AU S. 10).

Das oben dargelegte Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht (VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -). Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der "mittelbaren staatlichen Verfolgung" nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Ziff. 65). Von einer mangelnden Schutzgewährung ist dabei nicht nur dann auszugehen, wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel keinen effektiven Schutz gewähren können oder die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben (vgl. zu Art. 16a Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 10.07.1989 - 2 BvR 502186, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff). Vielmehr kommt es unter dem Gesichtspunkt der Schutzgewährung darauf an, ob der Schutz im konkreten Einzelfall effektiv und angemessen ist (so auch VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -), wobei hier bei der prognostischen Prüfung der Frage, ob der zur Verfügung gestellte Schutz effektiv ist, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass effektiver Schutz gewährt wird, wenn die in § 60 Abs. 1 S. 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG sowie Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 117 f. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des House of Lords).

In Anwendung dieser Grundsätze kann hinsichtlich des in einer Mischehe lebenden Klägers Ziff. 1 nicht mit der bei einem Widerruf gebotenen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sich bei seiner Rückkehr in das Kosovo die Verfolgungsmaßnahmen nicht wiederholen. Nachdem der Kläger Ziff. 1 schon einmal politische Verfolgung erlitten hat, können die Anerkennungsvoraussetzungen nur dann als weggefallen angesehen werden und ist der Widerrufstatbestand somit nur dann erfüllt, wenn er vor künftiger Verfolgung sicher ist.

Das Auswärtige Amt führt in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004 (Lagebericht November 2004) unter Bezugnahme auf einen Bericht der UNHCR zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo vom Januar 2003 aus, dass zwar nur wenige der - mehrheitlich bereits in das Kosovo zurückgekehrten - Kosovo-Albaner bei ihrer Rückkehr mit Sicherheitsproblemen konfrontiert gewesen seien, es gebe allerdings einge Kategorien von Kosovo-Albanern, so auch solche in Mischehen und Personen gemischt-ethnischer Herkunft, die mit ernsten Problemen einschließlich physischer Gefahr konfrontiert werden könnten, wenn sie derzeit nach Hause zurückkehren würden. Auch im neuen Bericht des UNHCR vom März 2005 zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo wird wiederum darauf hingewiesen, das Personen in gemischt-ethnischen Ehen oder gemischt-ethnischer Abstammung/Herkunft nach wie vor einer erhöhten Verfolgungsgefahr ausgesetzt seien und deshalb begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der Konventionsgründe hätten. Anders als bei den Minderheitenangehörigen gibt es für gemischt-ethnische Ehepaare keine sichere Enklave, in die sich diese Ehepaare zurückziehen könnten. Eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen ist somit nicht mit der für einen Widerruf erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.