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Zitieren als:
, Bescheid vom 08.06.2005 - 5094341-272 - asyl.net: M6693
https://www.asyl.net/rsdb/M6693
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Geheimgesellschaft
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Dem Antrag auf Asyl wird entsprochen.

In Sierra Leone wird Genitalverstümmelung (FGM - Female Genital Mutilation) innerhalb aller Gesellschaftsschichten und Ethnien (darunter Mende, Temme, Loko, Limba, Kono, Kuranko, Susu, Fullah und Mandingo) in variierender Häufigkeit praktiziert (United States/Department of State Sierra Leone - Country Reports an Human Rights Practices - 2003). Es gibt kein Gesetz dagegen. Der Staat hat bisher keine Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung ergriffen und scheint auch keinen echten Willen hierzu zu haben (UN Economic an Social Council, Situation of human rights in Sierra Leone, 19. Februar 2004). Frauen und Mädchen müssen bei einer Rückkehr in Gegenden mit hoher FGM-Inzidenz um ihr Wohlergehen und die körperliche Unversehrtheit fürchten, anderenfalls droht die gesellschaftliche Ächtung. Man geht davon aus, dass Mädchen bereits im Alter von fünf Jahren zur rituellen FGM geführt werden können. Anscheinend wird FGM spätestens kurz vor Eintritt der Geschlechtsreife vorgenommen, also in einem Alter, in dem die von dem Eingriff betroffenen Personen die Tragweite des Eingriffs vorab nicht einschätzen, die Folgen nicht absehen und sich zudem gegen diese in der Tradition wurzelnde rituelle Handlung physisch und psychisch kaum wehren können, ohne zu Außenseitern und Ausgestoßenen ihrer Gesellschaft zu werden (Institut für Afrikakunde, Gutachten vom 10. April 2002 an VG Frankfurt, Az.: IAK/Kö 23675001).

Schätzungen zufolge sind zwischen 80 und 90 Prozent der Frauen betroffen. Aufklärungskampagnen von NGOs werden durch Geheimbünde (z.B. Bondo oder Sande) bekämpft, die die Genitalverstümmelung als Initiationsritus vornehmen (United Kingdom/lmmigration and Nationality Directorate/Home Office Sierra Leone - Country Report - April 2004). FGM ist tief in der afrikanischen Tradition verwurzelt und wird von vielen Menschen in den betreffenden Ländern als integraler, lebenswichtiger Bestandteil der Kultur angesehen, der nicht so ohne Weiteres aufgegeben werden darf. In Sierra Leone ist diese Tradition anscheinend bei allen Bevölkerungsgruppen mit Ausnahme der Krio sehr lebendig.

Die Frage der Religionszugehörigkeit kann im Einzelfall Bedeutung haben - z.B. die Berufung auf das Christentum - sie ist aber wohl nicht grundsätzlich ausschlaggebend für die Frage, ob FGM praktiziert oder akzeptiert wird oder nicht. Einfache Gleichsetzungen wie Islam gleich FGM oder traditional-afrikanische Religion (vor allem Ahnenkult) gleich FGM oder Christentum gleich Immunität gegen FGM scheinen nicht berechtigt zu sein (Institut für Afrikakunde, Gutachten vom 10. April 2002 an VG Frankfurt, Az.: IAK/Kö 23675001).

Hinsichtlich der Anwendung von FGM in Sierra Leone bestehen anscheinend regionale und ethnische Unterschiede. Indizien weisen darauf hin, dass Unterschiede einerseits zwischen der Gruppe der Krio und den übrigen ethnischen Gruppen, andererseits zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Freetown und dem Rest des Landes liegen. Die Krio, die etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen und sich aus Nachkommen ehemaliger Sklaven zusammensetzen, welche vor etwa zwei Jahrhunderten vom amerikanischen Kontinent in den Großraum Freetown umgesiedelt wurden, scheinen FGM nicht anzuwenden, da sie nicht auf die gleichen Traditionen zurückgreifen (Institut für Afrikakunde, Gutachten vom 10. April 2002 an VG Frankfurt, Az.: IAK/KÖ). Grundsätzlich wird sie jedoch im gesamten Land praktiziert (Deutschland/Botschaft, Gutachten vom 29. März 2004 an das Bundesamt, Az.: 5028002-272). Da ca. 30 Prozent der Gesamtbevölkerung in Freetown leben, muss es folgerichtig auch in Freetown zu FGM kommen (Institut für Afrikakunde, Gutachten vom 10. April 2002 an VG Frankfurt, Az.: IAK/KÖ).

Zu diesem Thema liegt nur wenig neuere Rechtsprechung vor. Das VG Hamburg sah in einer drohenden Zwangsbeschneidung keine politische Verfolgung, da sie keinen Ausgrenzungscharakter habe und dazu diene, das betreffende Mädchen in den Kreis der Frauen der Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied aufzunehmen. Sofern die Familie (hier: Eltern) über eine höhere Bildung verfüge und die Rückkehr nach Freetown erfolge, könne sich die Mutter in Freetown an Institutionen und andere Nichtregierungsorganisationen -, trotz eventuellen Drängens von Verwandten auf Durchführung der Beschneidung - zu deren Verhinderung wenden. Diese Gesamtumstände führten zu einer erheblichen Reduzierung des Beschneidungsrisikos (VG Hamburg, Urteil vom 05. Mai 2004, Az.: 7 A 334/03). Neben diesen Gründen könnten Christen nach Auffassung des VG Frankfurt eine Beschneidung ablehnen (VG Frankfurt, Urteil vom 10. Juli 2003, Az.: 3 E 31074/98.A).

Wenn die Antragstellerin vorträgt, dass schon ihre Schwester von der erzwungenen Mitnahme zu dem Geheimbund nie mehr zurückgekommen sei ist, so kann die Angst vor Beschneidung ganz allgemein und somit auch die Furcht vor der Rückkehr nachvollzogen werden. Beschneidungen finden z. B. auch vor Aufnahme in die Geheimbünde (Nbundo) als "Initiationsritus" statt. Es bestehen zwar gewisse Zweifel am Vorbringen der Antragstellerin, weil die Mädchen regelmäßig bereits ab dem Alter von 5 Jahren beschnitten werden, jedoch ist zu Gunsten der Antragstellerin zu berücksichtigen, dass es spätestens vor der Geschlechtsreife zur erzwungenen Beschneidung kommt und dass es in Sierra Leone bisher kein gesetzliches Verbot der Beschneidung gibt. Zwar versuchen die nichtstaatlichen Organisationen mittels Aufklärungskampagnen gegen die Genitalverstümmelung vorzugehen, jedoch werden die Bemühungen insbesondere von den Geheimbünden unterlaufen. Allein in dem nicht bestehenden gesetzlichen Verbot der unmenschlichen Genitalverstümmelung seitens des Staates ist eine staatliche Verfolgung zu sehen.

Die Ausländerin hält sich mithin aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates auf und ist daher als Asylberechtigte gemäß Art. 16a Abs. 1 GG anzuerkennen.

Die Regelungen der §§ 26a, 27 AsylVfG stehen der Anerkennung als Asylberechtigte nicht entgegen.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen ebenfalls vor.

In der 80 bis 90 % aller Frauen in Sierra Leone grundsätzlich drohenden Genitalverstümmelung und der fehlenden gesetzlichen Verbotsvorschriften ist eine Bedrohung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit allein durch die Geschlechtszugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht zu sehen.

Nachdem bereits im Rahmen der Prüfung der Asylanerkennung gem. Art. 16a GG festgestellt wurde, dass sich die Ausländerin aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates aufhält, ist das Vorliegen des Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 1 AufenthG ebenfalls zu bejahen.