BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 13.06.2005 - 2 BvR 485/05 - asyl.net: M6702
https://www.asyl.net/rsdb/M6702
Leitsatz:

Der Sofortvollzug einer Ausweisung kann nicht auf bloße Vermutungen über das künftige Verhalten des Ausländers gestützt werden, sondern es ist eine auf Tatsachen gestützte Feststellung zur Realisierung der Gefahr bereits vor Ende des Hauptsacheverfahrens notwendig (hier: Ausweisung eines muslimischen Geistlichen wegen strittiger Predigten).

Schlagwörter: Ausweisung, Terrorismus, Unterstützung, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Rechtsweggarantie, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug
Normen: GG Art. 19 Abs. 4; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 8a
Auszüge:

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. Beide Entscheidungen verkennen die grundrechtliche Bedeutung des Rechtsschutzbegehrens des Beschwerdeführers und die daran anknüpfenden Erfordernisse an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und verwaltungsgerichtlicher Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlichrechtlichen Prozesses. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes ist daher nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwer wiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 401 f.>;69, 220 227 f.>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Januar 1996 2 BvR 2718/95 , AuAS 1996, S. 62 63>)

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht; sie lassen hinreichende, auf Tatsachen gestützte Feststellungen des Inhalts vermissen, es bestehe die begründete Besorgnis, die vom Beschwerdeführer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich bereits vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren. Stattdessen wird lediglich behauptet, dass bis zu einer Hauptsacheentscheidung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland drohe.

Ein überragendes öffentliches Vollzugsinteresse wird allein aus einer antizipierten Beweiswürdigung, der Anwesenheit des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und seiner mangelnden Abkehr von Äußerungen, deren Inhalt streitig ist, gefolgert. Hierbei handelt es sich jedoch im Wesentlichen um bloße Vermutungen dahin, der Beschwerdeführer könne entgegen seinen Einlassungen im Hintergrund weiterwirken. Hinreichend festgestellte staatliche Sicherheitsinteressen von erheblichem Gewicht, die jenseits des Interesses an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers ausnahmsweise einen Sofortvollzug der Ausweisungsverfügung rechtfertigen könnten, werden nicht dargelegt.

c) Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für diese Verkürzung effektiven Rechtsschutzes ist nicht ersichtlich. Die Prüfung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit ist vorliegend nicht zuletzt deshalb unerlässlich, weil sich die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung - jedenfalls nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand - nicht ohne weiteres erschließt.

Das den angegriffenen Entscheidungen zugrunde gelegte Verständnis der Äußerungen des Beschwerdeführers ist angesichts des Wortlauts, der, wie beide Entscheidungen zutreffend erkannt haben, allenfalls assoziative Bezüge hat und in dem nach Einschätzung des Sachverständigen beispielsweise nicht von Märtyrern, sondern von Kriegsheimkehrern die Rede ist, keineswegs gesichert. Dass zahlreiche Zweifelsfragen bestehen, verdeutlichen nicht zuletzt die Ausführungen des Sachverständigen.

aa) Das Verwaltungsgericht legt seiner Einschätzung im Ansatz eine vom Sachverständigen so nicht bestätigte Übersetzung des religiösen Gedichts zugrunde und bewertet die Äußerung nach dem für maßgeblich erachteten Empfängerhorizont als gewaltverherrlichend. Das aber gibt das Sachverständigengutachten nicht her. Der Sachverständige hat lediglich nicht ausschließen können, dass die Zuhörer an Selbstmordattentäter gedacht haben könnten. Eine Verklärung von Selbstmordattentätern oder gar einen Aufruf zur Nachahmung hat er jedoch gerade ausdrücklich verneint. Das übergehen die angegriffenen Entscheidungen.

bb) Auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts steht mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht in Einklang. Dies folgt nicht nur daraus, dass das Gericht die Verfahrensweise des Verwaltungsgerichts billigt. Vielmehr entspricht das Oberverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung auch selbst nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes.

Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 99>;96, 27 39>).

Das Oberwaltungsgericht hat hier erstmals die zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Ermächtigungsgrundlage des § 55 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG herangezogen, wonach ein Ausländer ausgewiesen werden kann, wenn er öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht in einer Weise billigt oder dafür wirbt, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören. Damit soll "geistigen Brandstiftern" so frühzeitig wie möglich begegnet werden, um gewichtige staatliche (Sicherheits) Interessen zu wahren. Das erfordert angesichts der schwer wiegenden Folgen der Ausweisung für den Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes hinreichend belastbare Feststellungen bereits im Eilverfahren.

Hier fehlt es jedoch schon an der erforderlichen Aufbereitung der Ermächtigungsgrundlage und ihrer tatbestandlichen Einzelelemente. Demgemäß bleibt die Rechtsanwendung des Oberverwaltungsgerichts unscharf und ermangelt der auch im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unentbehrlichen Zuordnung von Fakten zu den einzelnen Merkmalen der Befugnisnorm. Sie ist deshalb nicht geeignet, die sofortige Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers zu tragen.