VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 09.02.2005 - 10 K 193/03.A - asyl.net: M6718
https://www.asyl.net/rsdb/M6718
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Unverzüglichkeit, Politische Entwicklung, UNMIK, KFOR-Truppen, Änderung der Sachlage, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Drei-Jahres-Frist, Ermessen, Übergangsregelung, Fortbestehende Schutzbedürftigkeit
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7
Auszüge:

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Anerkennung der Kläger als politische Flüchtlinge ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist zu bejahen, wenn sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgebenden Verhältnisse nach Ergehen des Anerkennungsbescheides erheblich geändert haben und die Anerkennung deswegen nunmehr ausgeschlossen ist. So liegt der Fall hier, denn die für die Flüchtlings-Anerkennung der Kläger maßgebliche Annahme einer Verfolgung der Kosovo-Albaner durch den serbischen Staat ist überholt. Vielmehr entstand im Kosovo seit Juni 1999 durch den Einmarsch von KFOR- Truppen, den Abzug der serbischen Sicherheitskräfte, den Abschluss eines Militärabkommens zwischen der (damaligen) Bundesrepublik Jugoslawien und der NATO sowie durch die Umsetzung der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates über eine Friedenslösung im Kosovo eine mit Blick auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblich veränderte Situation, in welcher eine staatliche bzw. staatlich zurechenbare Verfolgung sowohl von albanischen Volkszugehörigen als auch von Angehörigen ethnischer Minderheiten im Kosovo nicht (mehr) feststellbar ist.

Vor dem Hintergrund dieser fortgesetzten ständigen Rechtsprechung der Kammer ergibt sich mit Blick auf den zum 1.1.2005 neu eingefügten § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG im Ergebnis nichts anderes. Zwar kann nach dieser Vorschrift nunmehr - vorbehaltlich einer innerstaatlichen Fluchtalternative - eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern erwiesenermaßen weder der Staat noch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, noch internationale Organisationen in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind mit Blick auf die Lage im Kosovo indes zu verneinen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die zurzeit die staatliche Gewalt im Kosovo ausübenden UN-Kräfte (UNMIK und KFOR) sowohl willens als auch in der Lage sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Die bisherige Rechtsprechung der Kammer beansprucht daher auch nach Ablösung des § 51 Abs. 1 AuslG durch den § 60 Abs. 1 AufenthG und insbesondere unter Berücksichtigung dessen Satz 4 c weiterhin Geltung.

Es ist daher für den Kosovo von einer veränderten innenpolitischen Lage auszugehen, welche den Widerruf asylrechtlicher Anerkennungen grundsätzlich rechtfertigt.

Dass die Anerkennungen der Kläger erst ca. vier Jahre nach dem Eintritt dieser Veränderungen widerrufen worden sind, stellt zwar einen Verstoß gegen das Gebot des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG dar, wonach der Widerruf unverzüglich nach Wegfall der maßgeblichen Voraussetzungen auszusprechen ist. Eine Verletzung von Rechten der Kläger ist hiermit indes nicht verbunden, da die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf einer Anerkennung allein dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition dient.

Entgegen der Ansicht der Kläger steht der Widerruf in ihrem Falle nicht (nachträglich) im Ermessen der Beklagten, so dass eine Fehlerhaftigkeit der Entscheidung im Sinne eines so genannten Ermessensnichtgebrauchs ausscheidet. Die Kläger berufen sich insoweit ohne Erfolg auf die Regelung des § 73 Abs. 2a A- sylVfG, der durch das Zuwanderungsgesetz (BGBI. I, S. 1950 ff.) mit Wirkung ab dem 1.1.2005 in das Asylverfahrensgesetz eingefügt worden ist (vgl. Art. 3 des Zuwanderungsgesetzes, a. a. O., S. 1989 ff.).

Zwar ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen und daher § 73 Abs. 2a AsylVfG grundsätzlich zu berücksichtigen. Damit allein steht aber nicht fest, welche rechtlichen Folgerungen hieraus zu ziehen sind. Es bedarf hierzu einer Analyse des Regelungsinhalts, welche zum Ergebnis führt, dass die Vorschrift keine für die Kläger günstigen Auswirkungen hat. Insbesondere ist für den aufgrund zwingenden Rechts verfügten Widerruf kein nachträgliches Ermessen der Beklagten eröffnet worden. Vielmehr handelt es sich um den vom Gesetz weiterhin vorgesehenen Fall eines zwingenden Widerrufs gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.

Der gegenteiligen Rechtsansicht, die in Fällen der vorliegenden Art - in welchen seit der Anerkennung ein Zeitraum von (deutlich) mehr als drei Jahren vergangen ist - annimmt, der Widerruf sei wegen eines Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig (so das Verwaltungsgericht Darmstadt in seinem Urteil vom 12.1.2005, 1 E 1225/03.A (3) ) kann nicht gefolgt werden. Die Vorschrift des § 73 Abs. 2a AsylVfG sieht nach ihrem eindeutigen Wortlaut eine Ermessensentscheidung der Beklagten über den Widerruf asylrechtlicher Anerkennungen erst vor, wenn sich die Behörde nach einer ersten Überprüfung gegen einen Widerruf entschieden und dies der Ausländerbehörde mitgeteilt hat. Gab es aber - wie auch hier - vor dem 1.1.2005 keine erste Überprüfung im Sinne des Satzes 1 der betreffenden Vorschrift, weil bis dahin ein entsprechendes Prozedere nicht vorgesehen war, so ist nicht überzeugend begründbar, dass Satz 2 der Vorschrift dennoch - d.h. unter Verzicht auf das gesetzlich gestufte Verfahren - Anwendung finden soll (So auch das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach in seinem Urteil vom 27.1.2005, AN 5 K 04. 31918, wonach der Umstand, dass eine erste regelmäßige Überprüfung der Widerrufsvoraussetzungen (schon) innerhalb von 3 Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung stattzufinden habe, nicht die Fiktion einer bereits in unbestimmter Vergangenheit erfolgten ersten Überprüfung und einer entsprechenden Mitteilung an die Ausländerbehörde begründe.

Dass es für "Übergangsfälle" keine gesetzliche Übergangsregelung gibt, darf daher nicht zum Anlass genommen werden, § 73 Abs. 2a AsylVfG dahingehend auszulegen, dass in Abhängigkeit von der seit der positiven Statusentscheidung verstrichenen Zeit, und zwar eines nach Ablauf der dreijährigen Frist nach Satz 1 der Vorschrift (unbestimmten) weiteren Zeitraums, die Situation des betroffenen Ausländers unter dem Aspekt der Aufenthaltsverfestigung derjenigen entspreche, die eine Abwägung der widerstreitenden Interessen bereits im Widerrufsverfahren erfordere.

Diese Auslegung findet nämlich weder im Gesetz noch in der amtlichen Begründung zum Zuwanderungsgesetz eine Grundlage (vgl. dazu die amtliche Begründung in BT -Drucks. 15/420, S. 112, abgedruckt im Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand des Gesamtwerks: Januar 2005, § 73) noch lässt sich annehmen, dass der Gesetzgeber bei einer entsprechenden Regelungsabsicht angesichts der erheblichen rechtlichen und praktischen Konsequenzen für die Übergangs- bzw. Altfälle auf eine ausdrückliche gesetzliche Regelung verzichtet hätte.

Ist somit vorliegend § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG nicht einschlägig, sondern der Tatbestand des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfüllt, steht im Weiteren Satz 3 dieser Vorschrift einem Widerruf der Anerkennungen der Kläger nicht entgegen. Nach Satz 3 ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Bei dem Merkmal der "zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll nachprüfbar ist und die Berücksichtigung humanitärer Gründe zulässt. Insoweit sind nach der Rechtsprechung der Kammer (vgl. dazu die oben zitierten Leit-Urteile) sowohl objektive als auch subjektive Aspekte bedeutsam, die im jeweiligen Einzelfall zu überprüfen sind. So wurde es z.B. als beachtlich angesehen, wenn die Rückkehr für einen erheblich Vorverfolgten eine schwere (psychische) Belastung bedeuten würde oder dem Betroffenen in der Heimat aufgrund einer weiterhin feindlichen Haltung der dortigen (Mehrheits-)Bevölkerung sowie dem Verlust des familiären, sozialen, ethnischen, kulturellen oder ökonomischen Umfeldes eine sozial-wirtschaftliche Verelendung drohte. Diese Rechtsprechung berücksichtigt sowohl das Handbuch des UNHCR von September 1979 über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge als auch die Richtlinien des UNHCR vom 10.2.2003 zum internationalen Schutz betreffend die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 (im Folgenden: UNHCR-Richtiinien). Den UNHCR-Richtiinien kommt indes lediglich die Funktion eines Hilfsmittels zur Auslegung des Rechts zu, so dass sie nicht völkerrechtlich verbindlich sind. Hiervon ausgehend hat die Kammer in ihrer Rechtsprechung lediglich die in den UNHCR- Richtlinien geforderte Wahrung des Rechts auf eine Existenzgrundlage aufgegriffen und dahingehend interpretiert, dass einerseits über ein bloßes Nicht-Verhungern hinaus keine wirtschaftlich-soziale Verelendung zurückkehrender Flüchtlinge ernstlich zu besorgen sein darf, andererseits diese die ihnen zumutbaren Anstrengungen zur Schaffung einer - wenn auch bescheidenen - Existenzgrundlage entfalten müssen. Im Übrigen hat die Kammer in ihrer Rechtsprechung klar gestellt, dass die in Deutschland erbrachten Integrationsleistungen des jeweiligen Ausländers im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG nicht berücksichtigt werden können.

Hiervon ausgehend ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung festzustellen, dass die Kläger nach ihrem Vorbringen keine im obigen Sinne zwingenden Gründe geltend gemacht haben, die dem Widerruf ihrer asylrechtlichen Anerkennungen entgegenstehen könnten.