VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 20.04.2005 - 9 L 224/05 - asyl.net: M6721
https://www.asyl.net/rsdb/M6721
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, offensichtlich unbegründet, RUF, Zwangsrekrutierung, Politische Entwicklung, Demobilisierung, UNAMSIL, Mittelbare Verfolgung, Nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7; AsylVfG § 36 Abs. 4 S. 1; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Der sinngemäße Antrag, die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 9 K 565/05.A erhobenen Klage gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. März 2005 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen, ist unbegründet.

Zunächst liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) offensichtlich nicht vor.

Die Beurteilung eines Asylantrages als "offensichtlich" unbegründet ist gerechtfertigt, wenn bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylantrages geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1990 - 2 BvR 643/90 -, NVwZ 1991, 258; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 20. September 2001 - 2 BvR 1392/00 - Informationsbrief Ausländerrecht (lnfAuslR) 2002, 146 ff. (zu § 30 Abs. 2 AsylVfG).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Antragsteller hat im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt selbst angegeben, niemals Schwierigkeiten mit Sicherheitskräften oder Behörden in Freetown gehabt zu haben. Soweit er auf die Inhaftierung von Führern der RUF verweist und damit seine Angst verbindet, ebenfalls wegen seiner behaupteten Zwangsmitgliedschaft als Kämpfer in der RUF verhaftet zu werden, ergibt sich daraus keine politische Verfolgung.

Zum einen geht die Kammer aufgrund ihrer Erkenntnislage davon aus, dass die Situation in Sierra Leone inzwischen als allgemein ruhig und stabil zu beurteilen ist und die Regierung die Menschenrechte der Bürger respektiert (vgl. United Nations, Security Council (UNSC), "Twenty-fourth report of the Secretary-General on the United Nations Mission in Sierra Leone" vom 10. Dezember 2004; U.S. Departement of State (USDS), "Sierra Leone, Country Reports on Human Rights Practices - 2004" vom 28. Februar 2005).

Die frühere Einbindung in eine Rebellenorganisation bewirkt keine staatliche Verfolgung; dies gilt selbst dann, wenn Zugehörigkeit zu einer kämpfenden Fraktion gegeben war. Zwar war eine Gefährdung in Einzelfällen, das Begleichen "offener Rechnungen", nicht auszuschließen (vgl. AA, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 31. März 2003; Auskunft vom 18. Mai 2004, a.a.O.; Institut für Afrika-Kunde (IA), Auskunft an das VG Gera vom 19. Oktober 2004). Prinzipiell sorgen aber die Truppen der Vereinten Nationen (UNAMSIL) sowie Polizei und Militär für die innere Sicherheit, wobei deren Präsenz zwar nicht ausreicht, um immer und überall Übergriffe gegen konkrete Personen zu verhindern (vgl. IA, a.a.O.). Aus Letzterem folgt jedoch keine politische Verfolgung, weil kein Staat asylrechtlich gesehen in der Lage sein muss, in seinem Staatsgebiet zu jeder Zeit und an jedem Ort einen Übergriff durch nichtstaatliche Organisationen oder Privatpersonen zu verhindern.

Für Freetown, wo der Antragsteller nach seinen Angaben die letzten drei Jahre vor seiner Ausreise gelebt hat, geht die zuletzt zitierte Auskunft zwar einerseits noch dahin, dass ein ehemaliger Angehöriger der Rebellen dort Ressentiments und gegebenenfalls Übergriffen unterworfen wäre, träfe er auf Personen, die von seiner Vergangenheit wüssten und während des Krieges zur Gegenseite gehört hätten; andererseits ist danach die Großstadt mit über einer Million Einwohner aber zu anonym, um eine Person automatisch einem bestimmten Personenkreis zuzuordnen, wenn ihre Vergangenheit nicht bekannt ist. Jedenfalls sind gezielte Übergriffe auf Personen, die den Rebellen angehört haben sollen, dem Auswärtigen Amt seit Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Freetown und der Westem Area durch die UNAMSIL an die sierra-leonischen Sicherheitskräfte im September 2004 nicht bekannt geworden (vgl. AA, Auskunft an das VG Gera vom 13. Januar 2005).

Die Annahme einer mittelbaren politischen Verfolgung des Antragstellers scheidet ebenfalls aus.

Den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen lässt sich kein hinreichender Anhalt für eine Duldung oder gar Unterstützung von Übergriffen oder aber eine mangelnde Fähigkeit und/oder Bereitschaft davor zu schützen, entnehmen (vgl. zur mittelbaren staatlichen Verfolgung: BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - BvR 502, 1000,961/86 -, Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 80, 315, 333 ff. (336). Hiergegen spricht insbesondere die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit durch die UNAMSIL an die sierra-leonischen Sicherheitskräfte, die mit der Übergabe in der Western Area einschließlich Freetown abgeschlossen ist, und die weitergehende Reduzierung der UNAMSIL-Kräfte (vgl. hierzu UNSC, a.a.O.).

Unabhängig davon ist darauf zu verweisen, dass die Grenze der asylrechtlich bedeutsamen Pflicht zu staatlicher Schutzgewährleistung erreicht ist, wenn die Kräfte des konkreten Staates überstiegen werden. Mit anderen Worten endet die asylrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates jenseits der ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Es bedarf insoweit keiner weiteren Erörterung, dass das Wiedererstarken staatlicher Strukturen nach langjährigen Bürgerkriegswirren wie in Sierra Leone nicht von Anfang an zu den letztlich angestrebten Verhältnissen führen kann. In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass selbst ein Staat mit seit langem gesicherten Strukturen seinen Angehörigen keine absolute Sicherheit gegen gewaltsame Übergriffe Dritter bieten kann und dies asylrechtlich auch nicht vorauszusetzen ist.

§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG verlangt keine abweichende Beurteilung. Nach dieser Vorschrift kann eine politische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure Staat oder Parteien bzw. Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen - einschließlich internationaler Organisationen - erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Für einen fehlenden Willen des Heimatstaats des Klägers, Verfolgungs chutz zu bieten, gibt es vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Erkenntnislage keinen greifbaren Anhaltspunkt.

Aus dem Vorbringen des Antragstellers ergeben sich - wie bereits dargelegt - keine ernstlichen Zweifel an der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsentscheidung betreffend ein Abschiebungsverbot. Er hat im Rahmen seiner dortigen Anhörung unter Hinweis auf die Inhaftierung eines Issa, dessen Gruppe er zugeordnet und der der dritte Mann unter dem RUF-Führer Foday Sonkoh gewesen sei, im Pademba-Gefängnis angegeben, man bekomme Angst, wenn man sehe, wie der engste Vorgesetzte, mit dem man zusammengearbeitet habe, festgenommen werde. In der Tat ist neben anderen ein Befehlshaber der RUF mit diesem Vornamen seit 2003 vor dem mit Resolution Nr. 1315 (2000) des VN-Sicherheitsrates vom 14. August 2000 eingerichteten internationalen Sondergerichtshof, der eine temporale Zuständigkeit für alle nach dem 30. September 1996 begangenen Bürgerkriegsverbrechen hat, angeklagt und inhaftiert worden. Materiell beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes aber auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen durch diejenigen Personen, die die größte Verantwortung tragen. So wurden in 2003 nach Einschätzung von Mitarbeitern des Gerichtshofes etwa dreißig Verfahren erwartet (vgl. AA, Auskunft vom 31. März 2003, a.a.O.). Für die Zuordnung des Antragstellers zu diesem begrenzten Personenkreis sind hinreichende Anhaltspunkte weder vorgetragen noch ersichtlich; dies gilt auch deshalb, weil der Sondergerichtshof nicht nur gegen Führer der RUF Anklage erhoben hat. Sein Vorgehen ist mehr als ausgewogen zu bezeichnen, weil nicht nur Anführer der Rebellen, sondern auch der regierungstreuen Milizen, darunter auch der ehemalige Innenminister, vor Gericht gestellt werden (vgl. ai, a.a.O.)

Es liegen des Weiteren keine Abschiebungshindernisse im Sinne des 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vor.