VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 15.04.2005 - 9 K 1971/03.A - asyl.net: M6725
https://www.asyl.net/rsdb/M6725
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Traumatisierte Flüchtlinge, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Fachärztliche Stellungnahmen, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Extreme Gefahrenlage, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Retraumatisierung, Finanzierbarkeit, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51
Auszüge:

Der Bescheid des Bundesamts vom 3. September 2003 ist rechtmäßig, soweit er einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Abschiebungshindernisse betreffenden Verfahrens ablehnt (vgl. § 113 Abs.5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die gemäß §§ 51 Abs. 5, 49 VwVfG gebotene pflichtgemäße Ermessensentscheidung führt (nur) insoweit zum Erfolg der Klage, als es um ein krankheitsbedingtes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis geht. Namentlich liegt die insoweit erforderliche Voraussetzung, dass ein Bestehenbleiben der bestandskräftigen ablehnenden Entscheidung des Bundesamts zu schlechthin unerträglichen Ergebnissen führt, vor. In der Sache selbst ist mit Blick auf die geltend gemachten psychischen Erkrankungen des Klägers in diesem Einzelfall ein krankheitsbedingtes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis anzunehmen.

Dem Kläger steht der geltend gemachte Wiederaufgreifensanspruch nicht zu. Bezüglich insbesondere seiner schweren psychischen Erkrankungen steht § 51 Abs. 2 VwVfG einem derartigen Anspruch entgegen. Der Kläger ist auch in der mündlichen Verhandlung eine überzeugende Erklärung dafür schuldig geblieben, warum er gegen den Bescheid vom 25. April 2003 nicht Klage erhoben hat. Was Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG anbelangt, fehlt es an jeglichem substantiierten Vortrag einer für ihn - im Vergleich zu vorerwähntem Bescheid - günstigen Änderung der Sach- oder Rechtslage.

Sind demnach die Voraussetzungen nicht erfüllt, bei deren Vorliegen das Bundesamt verpflichtet ist, das die Feststellung von Abschiebungshindernissen betreffende Verfahren wieder aufzugreifen, so führt der vor diesem Hintergrund anzunehmende Anspruch des Klägers auf fehlerfreie Ermessensentscheidung bezüglich des Wiederaufgreifens des Verfahrens gemäß §§ 51 Abs. 5,48, 49 VwVfG zu einem für ihn günstigeren Ergebnis, soweit es um ein zielstaatsbezogenes krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis geht. Nach der eingangs aufgeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2004 - 1 C 15.03 -, a. a. O., der das Gericht folgt, sind die Verwaltungs gerichte unter anderem verpflichtet, grundsätzlich Spruchreife herzustellen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das gilt selbst dann, wenn - anders als hier - der streitgegenständliche Bescheid keine Ermessensentscheidung enthält. Eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Ausländers ist in diesen Fällen geboten, wenn das Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu Abschiebungshindernissen zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führte und mithin das behördliche Ermessen auf Null reduziert ist. Derartiges kommt in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation - der Schwere nach vergleichbar einer extremen allgemeinen Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) - ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen, wie sich letztlich aus nachfolgenden sachlich-rechtlichen Ausführungen zu einem derartigen Abschiebungshindernis ergibt, vor.

Bei Rückkehr der Klägerin in den Kosovo ist eine wesentliche Verschlimmerung ihrer Erkrankung im Sinne existentieller Gesundheitsgefahren aus Sicht eines vernünftig denkenden und besonnenen Menschen nicht ernstlich zu befürchten und damit nicht überwiegend wahrscheinlich. Die Erkrankung ist nämlich in Würdigung aller in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen und des dem früheren § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG immanenten Zumutbarkeitsgesichtspunkt (§ 108 Abs. 1 VwGO) im Kosovo generell jedenfalls so weit behandelbar, dass sie bei dem gebotenen Mitwirken der Klägerin zumindest auf dem gegebenen Niveau gehalten werden kann und damit ihre Verschlimmerung und erst recht eine solche bis hin zu existentiellen Gefahren für die Klägerin verhindert werden kann. Die Erkrankung der Klägerin weist keine Besonderheiten auf, die insoweit eine abweichende Würdigung rechtfertigten.

Aus allen <diesen> Erkenntnisquellen ergibt sich für den Senat ein Bild, wonach die schon vor der kriegerischen Auseinandersetzung geschwächte allgemeine Gesundheitsversorgung im Kosovo zwar in jüngster Zeit gezielt verstärkt worden ist, aber noch längst nicht zufrieden stellen kann und nicht annähernd den Standard der deutschen Gesundheitsversorgung erreicht hat; eine psychische Erkrankung, insbesondere PTBS und schwere Depression, aber auch Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion und Albträumen, in stark belasteten Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens medikamentös bei Wirkkontrolle habe begleitend durchgeführten supportiven Gesprächen durch psychotherapeutisch nur eingeschränkt befähigtes ärztliches Personal behandelt wird und eine psychotherapeutische Behandlung durch qualifizierte Fachärzte nur in den ebenfalls stark frequentierten NRO durchgeführt werden kann. Soweit insbesondere die Fachärztin Dr. T.-N. und die Schweizer Flüchtlingshilfe eine unzureichende Psychotherapie im Kosovo bemängeln, geschieht dies erkennbar unter dem Blickwinkel einer Heilung oder Linderung bewirkenden Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen nach hier allerdings nicht maßgebenden deutschen oder westeuropäischen Standards. ... Auch diejenigen Erkenntnisquellen, die die Behandlungsmöglichkeiten für schwere psychische Erkrankungen im Kosovo für unzureichend halten, stellen somit eine grundsätzliche Behandlungsmöglichkeit, und zwar eine medikamentöse und kontrollehalber begleitende, supportive gesprächstherapeutische Behandlung, nicht in Abrede, messen ihr aber langfristig die erhoffte heilende oder die Symptome unterdrückende Wirkung nicht zu. ... Vom Deutschen Verbindungsbüro Kosovo wird insbesondere in den jüngeren Auskünften mehrfach betont, dass namhafte albanische Ärzte die Auffassung vertreten, dass supportive Gespräche trotz fehlender psychotherapeutischer Medikation in sicherer Umgebung therapeutisch wirksam seien. Das bedeutet nichts anderes, als dass die regelmäßig zu erwartende medikamentöse Behandlung mit begleitender Gesprächstherapie jedenfalls zur Vermeidung einer Verschlirnmerung des aktuellen Krankheits- bzw. Gesundheitszustands geeignet ist und keine überwiegend wahrscheinliche Gefahr einer Verschlimmerung der Krankheit und erst recht nicht eine Verschlimmerung vom oben beschriebenen Gewicht begründet. Das gilt erst recht für depressive Störungen oder depressive Reaktionen oder Anpassungsstörungen mit depressiven Störungen, die im Grundprinzip - antidepressiv - medikamentös mit begleitender, stützender Psychotherapie - auch in ambulanter Form - behandelt werden.

Soweit von Seiten der Abschiebungsschutz begehrenden Ausländer sinngemäß eingewandt wird, die vom Deutschen Verbindungsbüro Kosovo geschilderte Versorgungslage sei bewusst geschönt und nicht verwertbar, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen.

Soweit von Seiten der Abschiebungsschutz begehrenden Ausländer sinngemäß darauf hingewiesen wird, bei Rückführung in den Kosovo werde ggf. eine in Deutschland aufgenommene Therapie abgebrochen, man falle in ein Loch der Schutzlosigkeit oder es würden im Land der Peiniger die Krankheitssymptome erneut ausgelöst und verstärkt, führt auch das unter Berücksichtigung des - in den obigen Ausführungen angeführten - Zumutbarkeitsgesichtspunkts nicht zur Annahme einer überwiegend wahrscheinlichen wesentlichen oder gar lebensbedrohenden Gesundheitsverschlechterung im Sinne einer existenziellen Gesundheitsgefahr. Der Ausländer muss sich darauf verweisen lassen, und kann dieses Faktum nicht permanent ausblenden, dass er in das Land seiner kulturellen Heimat in befriedigtem Zustand zurückkehrt, wo einer Verschlimmerung seiner psychischen Erkrankung entgegenwirkende Behandlungsmöglichkeiten bestehen und es ihm zumutbar ist, sich gegebenenfalls mit Unterstützung seines Familienverbandes um Behandlung zu bemühen und sie wahrzunehmen sowie seinen Lebensbereich in einer bezüglich seiner psychischen Krankheit unkritischen Region zu begründen. Hinzuweisen ist zudem darauf, dass in der Wissenschaft die beachtliche Ansicht vertreten wird, die Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen habe auch und gerade im muttersprachlichen, kulturell vertrauten und befriedeten Heimatland gute Erfolgsaussichten (vgl. hierzu: v. Krieken, InfAuslR 2000, 518 ff.; Krebs, Kath. Klin. Duisburg, Gutachten vom 12. Februar 2004).

Das für eine erfolgreiche Behandlung vielfach geforderte Bleiberecht auf Dauer in Deutschland für den ausreisepflichtigen Ausländer und möglichst für seine gesamte Familie ... sieht das Ausländerrecht aber nicht vor. Überdies ist eine in Deutschland von mittels eines Dolmetschers durchgeführte Gesprächstherapie ohnehin kommunikativ und therapeutseits-reaktiv weniger zielführend als eine muttersprachliche im Kosovo durchgeführte Therapie - was gerade im vorliegenden Fall dadurch deutlich wird, dass eine weiterführende Gesprächstherapie des Dr. T. bei der Klägerin an der Sprachbarriere scheiterte -. Konfrontationsangst kann der Ausländer selbst entgegenwirken, in dem er den Ort des Geschehens meidet.

Soweit vom traumatisierten oder sonst psychisch kranken ausreisepflichtigen Ausländer vorgebracht wird, eine Rückkehr an den Ort seiner psychischen Erschütterung sei unzumutbar und . führe zu einer Retraumatisierung oder zum Wiederausbruch oder zur Verschlimmerung seiner psychischen Krankheit, führt das ebenfalls nicht zur Annahme überwiegend wahrscheinlicher Leibes- und Lebensgefahren von der beschriebenen Schwere. Auch insoweit ist es dem

Betreffenden zumutbar, seinen Lebensmittelpunkt an einem Ort zu begründen, wo diese Folgen nicht drohen, und den befürchteten Folgen mit den gegebenen Behandlungsmöglichkeiten zu begegnen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, jeder Ort des Heimatlandes sei insoweit ungeeignet und löse bei dem Rückkehrer die gleichen Folgen aus. Die Lebenserfahrung spricht gegen die Richtigkeit einer solchen Behauptung. Sie hätte zu Konsequenz, dass jeder traumatisierte oder sonst psychisch kranke Mensch nur außerhalb seines Heimatlandes erfolgreich therapiert werden könnte. Dass solches unzutreffend ist, beweist die Tatsache, dass viele öffentliche Einrichtungen und NRO im Kosovo psychotherapeutisch tätig sind und ihnen keinesfalls von vornherein ein Misserfolg zugesprochen werden kann.

Im vorliegenden Rechtsstreit der Klägerin ist gegenüber den vorstehenden Ausführungen keine abweichende Würdigung geboten. Die Klägerin ist wie allen übrigen im Kosovo verbliebenen und zurückkehrenden Landsleuten der Zugang zu den dortigen Möglichkeiten der Behandlung einer psychischen Erkrankung wie PTBS oder schwerer Depression mit Angstzuständen und Albträumen zugänglich. ...

Die Behandlung im CMHC ist kostenfrei oder weitgehend kostenfrei und die Klägerin und ihr Ehemann haben alle Möglichkeiten der Einkommensverschaffung wahrzunehmen, wenn sie nicht die Unterstützung des Familienverbandes bemühen und/oder die kosovarisch-administrative Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Im Übrigen kann sie auch in Deutschland eine kostenfreie Behandlung auf Dauer nicht erwarten.

Im Fall der ausreisepflichtigen Klägerin geht der Senat auch nicht davon aus, dass ein Suizid mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

Ausgehend von diesen Grundsätzen bedingt weder die beim Kläger ausweislich des von der Kammer eingeholten fachärztlichen Gutachtens vorliegende andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD 10 F 62.0) noch die nach diesem Gutachten vorangegangene posttraumatische Belastungsstörung die Annahme, das Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu Abschiebungshindernissen führe zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis. Das Ermessen der Beklagten, das Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG betreffende Verfahren wiederaufzugreifen und ein derartiges Abschiebungshindernis festzustellen, ist aber in diesem ganz besonders gelagerten Einzelfall vor dem Hintergrund der nachfolgenden Ausfuhrungen auf Null reduziert: Der Kläger hatte sich, wie aus seinen Angaben im Erstverfahren und den dort vorgelegten Original-Bescheinigungen ergibt, bereits nach Beendigung des Kosovo-Krieges im Kosovo wegen posttraumatischer Belastungsstörung durch Kriegstraumata in ärztlicher Behandlung befunden. Die besondere Fallgestaltung, die von den bei der Kammer regelmäßig anhängigen bzw. entschiedenen Verfahren, in denen Asylbewerber (erst) gegen oder nach Ende ihres asylrechtlichen Verfahrens auf psychische Erkrankungen verweisen, abweicht, ergibt sich darüber hinaus aus weiteren Umständen: Nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung ist in Übereinstimmung mit dem von der Kammer eingeholten fachärztlichen Gutachten von einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung des Klägers auszugehen. Dieser wirkte über den gesamten Verlauf der mündlichen Verhandlung in sich gekehrt, zurückgezogen und - wie auch im von der Kammer eingeholten Gutachten zum Ausdruck gekommen - überaus instabil. Aus daher nachvollziehbarer Sicht des Gutachters ist sehr wahrscheinlich (90-100 %) damit zu rechnen, dass bei einem Abbruch der jetzigen Behandlungsmaßnahmen ein ausgeprägtes eigen- und fremdgefährdendes Verhalten beim Kläger auftreten könnte. Wenngleich die ausweislich des mehrfach erwähnten fachärztlichen Gutachtens für erforderlich gehaltenen stützenden psychotherapeutischen Maßnahmen und psychopharmakologische Behandlung auch im Kosovo zu erhalten sind, gelangt das Gericht in Würdigung der besonderen Gesamtkonstellation zur Verneinung der Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos. Zur Überzeugung des Gerichts reichte in diesem Einzelfall selbst eine Woche im Anschluss an eine Rückkehr in den Kosovo zwecks Erlangung erster unterstützender psychiatrischer Gespräche nicht aus, um die hochgradige Eigen- und Fremdgefährdung seitens des Klägers hinreichend abzufedern.

Ob der Kläger theoretisch die erforderliche Behandlung im übrigen Staatsgebiet von Serbien und Montenegro erlangen könnte (vgl. hierzu z. B. Urteil der Kammer vom 3. November 2004 - 9 K 1582/03.A - m.w.N.), kann dahinstehen. Insoweit gelten die vorstehenden Ausführungen zu den gravierenden Besonderheiten seines Falls erst recht.