OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 24.02.2005 - 4 Bf 206/03 - asyl.net: M6740
https://www.asyl.net/rsdb/M6740
Leitsatz:

Soll ein Ausländer, der sich auf den europarechtlichen Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 ENA berufen kann, wegen besonderer Gefährlichkeit (§ 47 AuslG, jetzt §§ 53, 54 AufenthG) ausgewiesen werden, so ist individuell zu prüfen, ob sein weiterer Aufenthalt hingenommen werden kann.

Auch wenn der Tatbestand einer sog. Ist-Ausweisung erfüllt ist, kommt deshalb in Betracht, dass in einem Ausnahmefall von der Ausweisung abgesehen wird bzw. aufgrund der Umstände des Einzelfalls nicht festgestellt werden kann, dass besonders schwer wiegende Gründe der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA vorliegen, oder es kann eine aus der Schwere der Tat ggf. folgende entsprechende Vermutung widerlegt sein.

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Ausweisung, Straftäter, Totschlag, Freiheitsstrafe, Ist-Ausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Europäisches Niederlassungsabkommen, Sicherheit des Staates, Besonders schwerwiegende Gründe, Besondere Gefährlichkeit, Spezialprävention, Generalprävention, Wiederholungsgefahr, Ausnahmefall, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Ernstliche Zweifel
Normen: ENA Art. 3 Abs. 3; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 24 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 124a Abs. 4 S. 4
Auszüge:

Soll ein Ausländer, der sich auf den europarechtlichen Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 ENA berufen kann, wegen besonderer Gefährlichkeit (§ 47 AuslG, jetzt §§ 53, 54 AufenthG) ausgewiesen werden, so ist individuell zu prüfen, ob sein weiterer Aufenthalt hingenommen werden kann.

Auch wenn der Tatbestand einer sog. Ist-Ausweisung erfüllt ist, kommt deshalb in Betracht, dass in einem Ausnahmefall von der Ausweisung abgesehen wird bzw. aufgrund der Umstände des Einzelfalls nicht festgestellt werden kann, dass besonders schwer wiegende Gründe der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA vorliegen, oder es kann eine aus der Schwere der Tat ggf. folgende entsprechende Vermutung widerlegt sein.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Frage, ob Ausländer, die den Tatbestand einer Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG (jetzt § 53 Nr. 1 AufenthG) erfüllen und denen der besondere Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 AuslG (jetzt§ 56 Abs. 1 AufenthG) wegen Fehlens bzw. nach Wegfall der dort genannten Voraussetzung nicht (mehr) zu Gute kommt, Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 1 und 3 ENA beanspruchen können, soweit sie (wie der Kläger) Staatsangehörige eines Vertragstaates sind und seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalts im Bundesgebiet haben, bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie ist vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11. Juni 1996 (BVerwGE 101, 247 ff. = InfAuslR 1997, 8 ff.); auf das sich das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich bezogen hat (UA Seite 7), bereits entschieden. In dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht zum einen ausgeführt, dass zwischen den "schwerwiegenden Gründen" im Sinne des § 48 Abs. 1 AuslG und den "besonders schwerwiegenden Gründen" des Art. 3 Abs. 3 ENA kein qualitativer Unterschied besteht und dass insoweit hinsichtlich der Anforderungen an spezial- und generalpräventive Zwecke der Ausweisung dieselben Maßstäbe anzulegen sind. Zum anderen hat es in diesem Urteil dargelegt, dass ein Ausweisungsschutz auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge auch dann zu beachten ist, wenn er über das europäische Gemeinschaftsrecht und über das Ausländergesetz hinausgeht, und dazu auf seine feste Rechtsprechung verwiesen (a.a.O. S. 260). Dementsprechend sei eine sonst (nach nationalem Recht) zulässige Ausweisung von Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des Europäischen Niederlassungsabkommens gemäß Art. 3 Abs. 3 ENA nach einem mehr als zehn Jahre währenden ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates nur aus Gründen der Sicherheit des Staates oder aus besonders schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zulässig.

Soweit die im Zulassungsantrag aufgeworfene Frage - weitergehend - dahin zu verstehen sein sollte, dass grundsätzlich zu klären sei, ob bei Erfüllung des Tatbestandes einer Ist-Ausweisung das Vorliegen einer besonders schwerwiegenden Gefährdung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA bereits feststeht und es insoweit keiner individuellen Begründung eines spezial- oder generalpräventiv motivierten Ausweisungszweckes (mehr) bedürfe, rechtfertigt das ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung. Denn durch die o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juni 1996 ist ausreichend geklärt, dass Ausweisungen wegen besonderer Gefährlichkeit nach § 47 Abs. 1 AuslG bei Ausländern, die sich nach Verfestigung ihres ordnungsgemäßen langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf den Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 ENA berufen können, nicht ausnahmslos und zwingend und ohne Berücksichtigung privater Belange zu erfolgen haben. Nach dieser Entscheidung geht der europarechtliche Ausweisungsschutz inhaltlich zwar nicht über den Ausweisungsschutz durch das nationale Recht in § 48 Abs. 1 AuslG hinaus, d.h. die Ausweisung des durch Art. 3 Abs. 3 ENA geschützten Ausländers ist nicht von noch höheren Voraussetzungen abhängig (a.a.O. S. 262), der Schutz bleibt in der Sache aber auch nicht dahinter zurück. Insoweit schließt die Bezugnahme des Bundesverwaltungsgerichts auf das System der Ist-Ausweisung und Regelausweisung (einschließlich der qualitativen Gleichstellung der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach nationalem Recht mit den besonders schwerwiegenden Gründen nachdem Europäischen Niederlassungsabkommen) auch die darin enthaltenen Möglichkeiten ein, dass bei bestehendem europarechtlichen Ausweisungsschutz trotz Erfüllung des Tatbestandes einer Ist-Ausweisung in einem Ausnahmefall von der Ausweisung abgesehen bzw. aufgrund der Umstände des Einzelfalles die Feststellung des Vorliegens besonders schwerwiegender Gründe der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA nicht getroffen werden kann oder eine aus der Schwere der Tat ggf. folgende entsprechende Vermutung widerlegt ist. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11. Juni 1996 ausdrücklich ausgeführt, dass auch bei einem besonders schwerwiegenden Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA private Belange des Ausländers einer Ausweisung entgegen stehen können (a.a.O., S. 261).

Daran hat es die Feststellung angeschlossen, dass im Hinblick auf den spezialpräventiven Zweck der Ausweisung der Ausländer durch sein Verhalten dargetan haben muss, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet durch ihn zukünftig besonders schwerwiegend gefährdet ist und dass daneben generalpräventive Zwecke im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 ENA eine Ausweisung nur ausnahmsweise und nur unter den für deutschverheiratete Ausländer geltenden Einschränkungen ermöglichen (a.a.O., S. 261, 262). Hiermit wäre die von der Beklagten für zutreffend erachtete Auslegung dieser Regelung unvereinbar, wonach Art. 3 Abs. 3 ENA in den Fällendes § 47 Abs. 1 AuslG ausnahmslos keinen Ausweisungsschutz mehr vermitteln kann, auch wenn - wie hier (siehe dazu unten 2.) - spezial- oder generalpräventive Gründe für die Ausweisung nicht vorliegen. Vielmehr ist auch bei der beabsichtigten Ausweisung wegen besonderer Gefährlichkeit (§ 47 AuslG) eine individuelle Bewertung der Hinnehmbarkeit des weiteren Aufenthalts des Ausländers vorzunehmen, soweit er sich auf europarechtlichen Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 ENA berufen kann (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 13.4.2004, NVwZ-RR 2004, 898, 899; VGH Mannheim, Urt. v. 9.7.2003, EzAR 033 Nr. 18; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., 1999 § 45 AuslG Rdnr. 42; a.A. OVG Münster, 5.3.1998, InfAuslR 1998, 354, 356).

Die Berufung ist auch nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zuzulassen.

Soweit die Beklagte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils damit begründet, dass das Verwaltungsgericht wegen Erfüllung des Tatbestandes der Ist-Ausweisung einen etwaigen Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 ENA nicht habe berücksichtigen dürfen und die Ausweisung deshalb auch ohne gesonderte Feststellung des Vorliegens einer Wiederholungsgefahr bzw. generalpräventiver Gründe rechtmäßig sei, kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden. Danach ist das Verwaltungsgericht bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung zu Recht davon ausgegangen, dass die Beklagte hier europarechtlichen Ausweisungsschutz zu berücksichtigen hatte und dass insoweit eine individuelle Bewertung der Hinnehmbarkeit des weiteren Aufenthalts des Klägers unter Berücksichtigung etwaiger spezialpräventiver oder generalpräventiver Ausweisungzwecke vorzunehmen war.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts werden ferner nicht dargelegt, soweit die Beklagte mit dem Zulassungsantrag vorträgt, das Verwaltungsgericht habe - falls entgegen ihrer Ansicht hier überhaupt Ausweisungszwecke noch gesondert geprüft werden müssten - zu Unrecht angenommen, die Ausweisung könne weder auf ausreichende spezial- noch generalpräventive Gründe gestützt werden. Die dazu vorgebrachten Gründe erschüttern die Darlegungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil nicht.

Das Verwaltungsgericht hat seine Einschätzung (Prognose), dass trotz der Schwere der abgeurteilten Straftat eine Wiederholungsgefahr nicht festzustellen sei - und deshalb ein Bedürfnis, für eine spezialpräventiv motivierte Ausweisung nicht bestehe -, entscheidungserheblich auf eine Vielzahl von Besonderheiten des vorliegenden Falles gestützt. Dabei hat es zum einen zutreffend auf die Einzelumstände der Straftat verwiesen (Tatentstehung und konkrete Tatausführung, schwerwiegende Provokation und Eskalation des Streits durch das Opfer, das den Kläger zuvor mit einem sog. Faustdolch bedroht hatte). Zum anderen hat das Verwaltungsgericht die Persönlichkeit des Klägers gewürdigt, von der es sich nach der Darstellung in den Entscheidungsgründen in der mündlichen Verhandlung ein eigenes Bild gemacht hat Danach hatte das Verwaltungsgericht von dem Kläger den Eindruck einer besonnenen und gereiften Person. Es hat insoweit bei der Einschätzung einer möglichen Wiederholungsgefahr weiter berücksichtigt, dass der Kläger nicht zur Begehung von Gewalttaten neigt. Er sei weder vor der abgeurteilten Tat vom 3.Juni 1997 noch danach einschlägig aufgefallen. Zudem befinde der Kläger sich im vorgerückten Lebensalter (er ist zwischenzeitlich 62 Jahre) und lebe in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen. Der Zulassungsantrag bringt gegen diese Einzelfallbewertung durchgreifende Gründe nicht vor.