VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 09.06.2005 - 2 G 691/05.A (V) - asyl.net: M6747
https://www.asyl.net/rsdb/M6747
Leitsatz:

Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung in Äthiopien; keine Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet.

 

Schlagwörter: Äthiopien, Genitalverstümmelung, Flüchtlingsfrauen, offensichtlich unbegründet, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 30 AsylVfG
Auszüge:

Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung in Äthiopien; keine Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Anordnungsbegehren ist begründet, da bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen dem Aufschubinteresse der Antragstellerin mit der Folge der Aussetzung der Vollstreckung (Abschiebung) und dem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland und dem Vollzugsinteresse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt.

Ernstliche Zweifel sind nach Auffassung des Gerichts deshalb gegeben, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 30 AsylVfG unabhängig davon welcher Absatz und welches Regelbeispiel Anwendung finden kann, nicht gegeben sind. Grundsätzliche Voraussetzung für eine qualifizierte Ablehnung des Asylantrages gem. § 30 AsylVfG ist nämlich die Wertung, dass der Asylantrag unbegründet ist. Erst wenn dies positiv festgestellt werden kann, wird die Möglichkeit der qualifizierten Ablehnung eröffnet. Dabei muss sich der qualifizierende Ausspruch wegen des in § 13 AsylVfG festgelegten Umfangs des Asylantrages sowohl auf die Asylanerkennung wie auf das Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 1 AufenthG beziehen. Wegen des in § 13 Abs. 1 und Abs. 2 AsylVfG normierten regelmäßigen Umfangs eines Asylantrages kann das Offensichtlichkeitsurteil hinsichtlich der Verfahrensgegenstände "Anerkennung als asylberechtigt" und "Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG" nur einheitlich erfolgen.

Im vorliegenden Verfahren bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) ernstliche Zweifel an der Entscheidung des Bundesamtes zu dem Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG.

Nach der Stellungnahme von ai vom 05.10.2004 an das VG München ist davon auszugehen, dass zwischen 90 und 73 % der gesamten weiblichen Bevölkerung Äthiopiens beschnitten sind. Dem Verweis auf den Länderbericht zu Äthiopien der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) sei zu entnehmen, dass 80 % der weiblichen Bevölkerung von Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung (FGM) betroffen sind. Unter Verweis auf einen Unicef-Bericht liegen die Prozentzahlen in den südlichen Regionen bei 54 %, in Amhara bei 92 %, in Afar bei 96 %, in Oromia bei 99 % und in Somalia bei 100 % der Mädchen. In einer Stellungnahme des Instituts für Afrikakunde vom 16.11.1999 an das VG Berlin wird von einer weit verbreiteten Praxis der Beschneidung gesprochen und die Zahl der Beschnittenen für Äthiopien mit 90 % angegeben. Der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.05.1999 an das VG Berlin ist ein Prozentsatz zwischen 73 und 90 % hinsichtlich der Praxis der Genitalverstümmelung zu entnehmen. Effektiver Schutz durch staatliche Stellen oder Nicht-Regierungsorganisationen sei nicht zu erwarten, falls die Genitalverstümmelung mit Zwang durchgeführt werden soll. Auch das äthiopische Strafrecht stellt die Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen nicht unter Strafe. Nach Auswertung dieser Auskünfte geht die Einzelrichterin für das vorliegende Eilverfahren davon aus, dass der Antragstellerin bei summarischer Prüfung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung droht. Diese Wertung wird alleine durch die in den Auskünften genannten Prozentzahlen gerechtfertigt. Ob sich die Antragstellerin mit Hilfe mit ihrer personensorgeberechtigten Mutter dieser Maßnahme entziehen kann, wovon die Antragsgegnerin auf Seite 4 unten ihres Bescheides wohl ausgeht, bedarf weiterer Aufklärung. Im Gegensatz zur Auffassung des Bundesamtes bietet das bisherige Verhalten der Mutter insbesondere der Umstand, dass sie sowohl in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in Belgien Asylanträge gestellt hat, keinen Anhaltspunkt für Rückschlüsse auf ihre Willensstärke und Durchsetzbarkeit gegen gesellschaftliche Zwänge. Die Stellung von Asylanträgen dient u. a. auch der Legalisierung des Aufenthalts und weist damit auf das Bemühen hin, sich in der Bundesrepublik Deutschland und auch im Ausland rechtstreu verhalten zu wollen.

Ob damit gleichzeitig die Charaktereigenschaft der Willensstärke und der Durchsetzungsfähigkeit bewiesen wird, erscheint dem Gericht höchst zweifelhaft.