VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 02.03.2005 - 6 UE 972/03 - asyl.net: M6753
https://www.asyl.net/rsdb/M6753
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung auf Grund der Gefahr der Strafverfolgung wegen "Beleidigung der staatlichen Militärkräfte" (Art. 159 TStGB) für Kurden aus der Türkei, der in Deutschland öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung erklärt hat.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Westtürkei, Dorfschützer, Sippenhaft, Nachfluchtgründe, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, PKK, Folter, Misshandlungen, Antragstellung als Asylgrund, Anklage, Kriegsdienstverweigerung, Exilpolitische Betätigung, Subjektive Nachfluchtgründe, Beleidigung der staatlichen Militärkräfte
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 1; TStGB Art. 158
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung auf Grund der Gefahr der Strafverfolgung wegen "Beleidigung der staatlichen Militärkräfte" (Art. 159 TStGB) für Kurden aus der Türkei, der in Deutschland öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung erklärt hat.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung hat allerdings insoweit Erfolg, als der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. l Satz 1 AufenthG in seiner Person vorliegen.

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei zwischenzeitlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in der Form, dass er im Rahmen der Einreisekontrolle mit einer Überstellung an die politische Abteilung der Polizei verbunden mit der Gefahr von Misshandlung und Folter rechnen muss.

Der Senat hat bereits mit Urteil vom 29. November 2002 (6 UE 1142/98,A) betreffend einen weiteren Angeklagten aus dem Strafverfahren vor dem Landgericht Midyat festgestellt, dass ehemalige Asylbewerber, die in die Türkei abgeschoben werden oder freiwillig zurückkehren, an der Grenze mit längerfristiger Polizeihaft rechnen müssen, während von den türkischen Behörden geprüft wird; ob sich der Betreffende politisch gegen den türkischen Staat betätigt hat oder Informationen über exilpolitische Organisationen geben kann.

Ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer muss danach bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird. Dies gilt insbesondere, wenn gültige Reisedokumente nicht vorgewiesen werden können. In diesem Fall erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung (unter Umständen Kontaktaufnahme mit der Personenstandsbehörde und Abgleich mit dem Fahndungsregister) sowie eine Befragung nach Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuellen Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakten zu illegalen türkischen Organisationen im In- und Ausland (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 07.09.1999, S. 25, und vom 19.05.2004, S. 44). Diese Einholung von Auskünften, während der der Rückkehrer meist in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache festgehalten wird, konnte in der Vergangenheit bis zu mehreren Tagen dauern; Fälle, in denen eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte, sind dem Auswärtigen Amt in jüngster Zeit allerdings nicht mehr bekannt geworden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 19.05.2004, S. 44). Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 07.09.1999, S. 25, und vom 19.05.2004, S. 45). Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet; Wehrdienstflüchtige haben damit zu rechnen, festgenommen, gemustert und ggf. einberufen zu worden und zwar unter Umständen nach Durchführung eines Strafverfahrens (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vorn 07.09.1999, S. 25, und vom 19.05.2004, S. 44).

Anders ist es, wenn Personen wegen konkreter Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, an die politische Abteilung der Polizei überstellt wenden; dass eine derartige Überstellung an die zuständigen Sicherheitsbehörden erfolgt, bestätigt das Auswärtige Amt auch noch in dem jüngsten Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 44). Dass mit der Überstellung an die politische Polizei die Gefahr von Misshandlung und Folter verbunden ist (so ausdrücklich: Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden vom 02.02.1993, S. 2, und Lagebericht vom 07.12.1995, S. 10), lässt sich den aktuelleren Lageberichten in dieser Ausdrücklichkeit zwar nicht mehr entnehmen. Das Auswärtige Amt bezieht - soweit ersichtlich - erstmals in dem Lagebericht vom 19. Mai 2004 Stellung dazu, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei "nur aufgrund von vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist". Misshandlung und Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt sogar aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 19.05.2004, S. 45). Die Frage, in welchen Fällen es zu Misshandlung und Folter im Gewahrsam der politischen Abteilung kommen kann, beantwortet das Auswärtige Amt in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Auch wenn Folter und körperliche Misshandlung durch türkische Ermittlungsbehörden in den letzten Jahren zurückgegangen sind, so sind sie doch nicht außer Gebrauch geraten. Dies räumt sogar der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments ein, der zugleich auf die präventive Wirkung der Untersuchungen und Kontrollen, die die Mitglieder dieses Ausschusses in Haftanstalten und Polizeidienststellen durchführen, hinweist (Deutscher Bundestag, Bericht vom 16.06.2003 über die Delegationsreise des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe in den Iran und die Türkei vom 10. bis 16. Mai 2003, S. 14 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 21.06.2003, S. 25). Dementsprechend geht auch aus dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Mai 2004 noch hervor, dass es in der Türkei nach wie vor Fälle von Folter und Misshandlung gibt und es der Regierung bislang nicht gelungen ist, flächendeckend Folter und Misshandlung zu unterbinden (S. 35). Kaya spricht sogar in einem Gutachten an das OVG Nordrhein-Westfalen von einer Zunahme von Folterfällen, Morden mit unbekannten Tätern und Militäroperationen, insbesondere in den Provinzen des früheren Notstandsgebietes und der daran angrenzenden Provinzen (Diyarbakir, Van, Hakkari, Sirnak, Tunceli), nachdem die Organisation PKK/KONGRA GEL den seit 1999 bestehenden einseitig ausgerufenen Waffenstillstand zum 1. Juni 2004 beendet hat; dieser Einschätzung entsprechen auch die Sicherheitshinweise das Auswärtigen Amtes für die Türkei vom 24. November 2004. Die Menschenrechtsstiftung spricht sogar allein von 600 Folterfällen im vergangenen Jahr und beharrte im Vorfeld des Fortschrittsberichtes der EU-Kommission darauf, dass "systematisch" gefoltert werde (Erzeren, Der lange Marsch in: ai-journal vom 01.12.2004).

Der Grund für das Interesse der türkischen Sicherheitskräfte en der Person des Klägers, verbunden mit der Gefahr der Überstellung an die politische Polizei, liegt darin, dass es sich bei dem Kläger um einen von acht Angeklagten handelt, die von dem Urteil des Landgerichts Midyat vom 25., Januar 2001 betroffen sind. Das Urteil das Landgerichts Midyat - an dessen Echtheit der erkennende Senat nicht zweifelt (vgl. dazu: Auswärtiges Amt an VG Saarlouis vom 29.10.2001) - stellt eine Besonderheit dar, weil es sich dabei um das - soweit ersichtlich - erste bekannt gewordene strafgerichtliche Verfahren nach Art. 159 TStGB im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigerungsaktionen von Kurden in Deutschland handelt. Besondere Bekanntheit haben demzufolge auch die von dem vorbezeichneten Urteil betroffenen acht türkischen Staatsangehörigen - u.a. der Kläger - erlangt. Das Landgericht Midyat - Strafgericht für schwere Delikte - hat in diesem Verfahren eindeutig festgestellt, dass die Einreichung der von den (acht) Angeklagten selbst unterschriebenen Erklärungen an das türkische Generalkonsulat in Deutschland den Straftatbestand des Art. 159 TStGB - Beleidigung der staatlichen Militärkräfte - erfüllt. Lediglich aufgrund des (Amnestie-) Gesetzes Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 stellte das Gericht die öffentliche Klage gegen die Angeklagten zurück und wies darauf hin, dass das Verfahren wieder aufgenommen werde, wenn innerhalb von fünf Jahren eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erfolge, die gleichartig oder schwerer sei als die zur Rede stehende.

Vor allem die gutachterlichen Stellungnahmen von Taylan und Oberdiek aus dem Jahre 2001 haben den Senat in dem Urteil vom 29. November 2002 (6 UE 1142/96.A) veranlasst, in dem vorbezeichneten Verfahren von einer Rückkehrgefährdung des dortigen Klägers auszugehen. Dabei hat sich Taylan in einem Gutachten an das VG Saarlouis vom 23. Juni 2001 auf die Angaben von in politischen Verfahren tätigen türkischen Rechtsanwälten gestützt und die Zahl solcher und ähnlicher Verfahren als sehr gering eingeschätzt. Oberdiek hat in einem Gutachten an Rechtsanwalt Gerth vom 22. Oktober 2001 mitgeteilt, dass es sich bei dem Strafverfahren vor dem Landgericht Midyat um das erste ihm bekannte Verfahren handele, in dem nach Art. 159 TStGB wegen der geäußerten Absicht, den Kriegsdienst zu verweigern, angeklagt und geurteilt worden sei. Die meisten in der Türkei nach Art. 159 TStGB durchgeführten Verfahren ließen sich als "Gesinnungsjustiz" bezeichnen, die die Person in ihrer (oppositionellen) politischen Überzeugung treffen solle. Das Verfahren in Midyat sei nicht wegen der erklärten Verweigerung des Militärdienstes eröffnet worden, sondern weil Worte wie "schmutziger Krieg", "Mordmaschine" und "Massaker" verwendet worden seien. Bei den acht Angeklagten aus dem Verfahren vor dem Landgericht Midyat handele es sich um "Jugendliche" aus dem Kreis Idil (Provinz Sirnak). Die Provinz Simak sei in den 80iger Jahren stark umkämpft und teilweise von der Kurdischen Arbeiterpartei PKK beherrscht gewesen. Jugendliche aus dieser Region, die sich nicht als Dorfschützer hätten bewaffnen lassen und sich noch dazu ins Ausland abgesetzt hätten, seien mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Verdacht der aktiven Unterstützung der PKK ausgesetzt. Dies werde - so die Einschätzung von Oberdiek - Konsequenzen bei einer (zwangsweisen) Rückkehr dieser Personen in die Türkei haben. Mit dem Verfahren von Midyat seien sie "aktenkundig" geworden und würden bei der Einreise nach einer Überprüfung der Identität vermutlich nicht sofort wieder auf freien Fuß kommen. Neben den Kreiswehrersatzämtern dürfte auch die politische Polizei ein Interesse an ihnen haben. Eine Überstellung zum Kreiswehrersatzamt in Bakirköy (in der Nähe des Flughafens in Istanbul) müsse noch keine schwerwiegenden Konsequenzen haben; doch schon die Polizei am Flughafen könnte "grob" werden, da es sich in den Augen der Sicherheitskräfte gerade bei diesen Menschen um "Vaterlandsverräter" handele. Eine anschließende Überstellung an die politische Polizei - verbunden mit der Gefahr von Schlägen oder "feineren Formen der Folter" - sei durchaus wahrscheinlich.

Der Senat hat diese Einschätzung von Oberdiek bereits im Urteil vom 29. November 2002 (5 UE 1142/98.A) geteilt und hält daran auch heute noch fest.