VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 17.06.2005 - A 9 K 10286/03 - asyl.net: M6763
https://www.asyl.net/rsdb/M6763
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Aleviten, Festnahme, Folter, Glaubwürdigkeit, Drittstaatenregelung, Luftweg, Einreise
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt einen Anspruch darauf, als Asylberechtigter anerkannt zu werden; außerdem liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Kläger hat überzeugend, detailliert und nachvollziehbar geschildert, was ihm am 15.09.2002 geschehen ist. So vermochte der Kläger das Gericht davon zu überzeugen, dass er von Zivilpolizisten wegen seiner politischen Aktivitäten in Istanbul, aber auch in Hatay und Reyhanli festgenommen und gefoltert wurde. Ob der Kläger tatsächlich Gefahr gelaufen ist, dem "Verschwinden lassen" anheim zu fallen, kann offen bleiben. Denn jedenfalls ist das ihm Widerfahrene als dem türkischen Staat zurechenbare politische Verfolgung zu beurteilen. Der Kläger wurde nicht bloß nach seinen politischen Aktivitäten im Zusammenhang mit möglicherweise verbotenen Organisationen befragt. Er war vielmehr ernsthafter, massiver Todesdrohung und auch erheblicher Gewaltanwendung ausgesetzt. Seine Hoden wurden, davon ist das Gericht überzeugt, gequetscht. Seine Nase wurde, auch davon ist das Gericht überzeugt, erheblich verletzt, möglicherweise sogar gebrochen. Er wurde an eine Wasserleitung angehängt, mit Wasser übergossen und wiederholt, auch mit Schlagstöcken geschlagen. Über Stunden hinweg wurde er mit seiner Tötung bedroht und erlitt glaubhaft existentielle Ängste. Angesichts dessen hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts politische Verfolgung erlitten. Für die Glaubwürdigkeit des klägerischen Vorbringens unerheblich sind die vom Beklagten als "bescheiden" bezeichneten Grundkenntnisse über Führungspersönlichkeiten und Ideologie des Weltkommunismus. Eine "Phrasendrescherei" des Klägers ließ sich im Rahmen seiner umfangreichen informatorischen Anhörung nicht feststellen. Die bereits erlittene Vorverfolgung ist mithin glaubhaft gemacht. Wie dieser Vorfall zeigt, stand dem Kläger aber angesichts seiner bereits beim Bundesamt plausibel geschilderten politischen Aktivitäten eine (weitere, erneute) asylrelevante Verfolgung unmittelbar bevor, da er jederzeit in konkreter Gefahr stand, erneut und in vergleichbarer Art und Weise verhaftet und gefoltert zu werden.

Der Kläger ist daher vorverfolgt. Angesichts des ihm Widerfahrenen war es ihm nicht mehr zumutbar, in seinem Heimatland zu verbleiben. Eine inländische Flucht- und Lebensalternative stand ihm aufgrund der erlittenen bzw. unmittelbar bevorstehenden Vorverfolgung nicht zur Verfügung.

b) Ist der Kläger hiernach vorverfolgt ausgereist, so bedürfte es bei einer Rückkehr in die Türkei der hinreichenden Sicherheit vor erneuter asylrelevanter Verfolgung oder, falls dies nicht für alle Regionen der Türkei festgestellt werden kann, der hinreichenden Sicherheit durch die zumutbare Möglichkeit des Ausweichens in einen verfolgungssicheren Landesteil, in welchem auch nicht die sonstigen Nachteile und Gefahren drohen, durch welche er in eine ausweglose Lage geriete (s.o.). Hiervon kann nach vorgenannten Ausführungen allerdings nicht ausgegangen werden.

c) Einer Asylanerkennung des Klägers steht schließlich aber auch nicht Art. 16a Abs. 2 GG entgegen. Hiernach kann sich auf das Asylrecht nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Artikels 16 a Abs. 2 Satz 1 GG zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrats bedarf, bestimmt. Nach § 26 a Abs. 2 AsylVfG sind sichere Drittstaaten außer den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften die in Anlage 1 zu § 26 a Abs. 2 AsylVfG bezeichneten Staaten. Diese Drittstaatenregelung ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Urteil v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 DÖV 1996, 647 ff.). Der Kläger hat vorgetragen, am ... mit einem Flugzeug der Turkish Airlines von Istanbul kommend nach Stuttgart geflogen zu sein und hier gegen 15.00/15.30 Uhr eingereist zu sein. Zwar hat der Kläger keinen Reisepass und auch keine Flugunterlagen vorgelegt. Indes hat er in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt, warum er dies nicht konnte und angesichts seines im übrigen glaubhaften und überzeugenden Vorbringens glaubhaft ausgeführt, den bei der Einreise benutzten Namen aus Sorge um seine Angehörigen nicht nennen zu wollen. Das Gericht glaubt angesichts der intellektuellen Leistungsfähigkeit des Klägers diesem zwar nicht, dass er den Namen mittlerweile vergessen hat. Da es angesichts des im Übrigen glaubhaften geschilderten Schicksals von der Einreise auf dem Luftweg überzeugt ist, schadet dies in der vorliegenden Fallkonstellation aber nicht.