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OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 06.06.2005 - A 5 B 281/04 - asyl.net: M6764
https://www.asyl.net/rsdb/M6764
Leitsatz:

Gesundheitsgefahr wegen HIV-Infektion stellt in Nigeria eine allgemeine Gefahr gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar; extreme Gefahrenlage für HIV-Infizierten, der die antiretrovirale Therapie nicht bezahlen kann und daher innerhalb von drei Monaten eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erleiden würde; für Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung bei allgemeiner Gefahr genügt es, wenn der Schaden in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang (hier: Gesundheitsverschlechterung innerhalb von drei Monaten) als zwangsläufige Folge der Abschiebung eintritt.

 

Schlagwörter: Nigeria, HIV/Aids, Krankheit, Abschiebungshindernis, Finanzierbarkeit, Situation bei Rückkehr, Medizinische Versorgung, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Gesundheitsgefahr wegen HIV-Infektion stellt in Nigeria eine allgemeine Gefahr gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar; extreme Gefahrenlage für HIV-Infizierten, der die antiretrovirale Therapie nicht bezahlen kann und daher innerhalb von drei Monaten eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erleiden würde; für Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung bei allgemeiner Gefahr genügt es, wenn der Schaden in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang (hier: Gesundheitsverschlechterung innerhalb von drei Monaten) als zwangsläufige Folge der Abschiebung eintritt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass in seiner Person Abschiebungshindernisse gemäß dem im Zeitpunkt der Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts geltenden § 60 Abs. 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950) vorliegen, weil eine extreme Gefahr für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit als allein geltend gemachte Tatsachengrundlage des im Berufungsverfahren streitigen Anspruchs aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria im gegenwärtigen Zeitpunkt besteht.

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschl. v. 29.4.2002 - 1 B 59.02 - zitiert nach JURIS; Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 - zitiert nach JURIS).

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt ferner voraus, dass die dem Kläger drohende Gesundheitsgefahr erheblich ist, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das ist der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Klägers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Konkret ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung alsbald nach Rückkehr des Klägers nach Nigeria eintritt, weil er aus finanziellen Gründen die erforderliche medizinische Therapie nicht in Anspruch nehmen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.7.1999 - 9 C 2/99 - zitiert nach JURIS).

Die vorgenannten Voraussetzungen liegen insoweit vor, als der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib bzw. Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt sein wird. Der Gesundheitszustand des Klägers würde sich im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria nicht nur wesentlich, sondern lebensbedrohlich verschlechtern, weil er aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sein wird, die medizinisch erforderliche Therapie in Anspruch zu nehmen.

Der Kläger müsste somit innerhalb von drei Monaten nach Abbruch der antiretroviralen Kombinationstherapie mit einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes rechnen. Damit ist die Gefahr konkret im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Die Gefahr der wesentlichen Veschlechterung des Gesundheitszustands ist auch zielstaatsbezogen. Der Kläger wird in Nigeria nicht über die finanziellen Mittel verfügen, die für eine Fortführung der antiretroviralen Kombinationstherapie erforderlich sind. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, an deren Richtigkeit der Senat auch insoweit keinen Anlass zu zweifeln sieht, würde der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria günstigstenfalls durch seine Tätigkeit als Farmer ein Einkommen erwirtschaften können, das ihm die Finanzierung der allgemeinen Lebenshaltungskosten ermöglicht. Nach der in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in Lagos vom 5.1.2001 wird eine Behandlung in Nigeria 30.000 bis 50.000 Naira (umgerechnet ca. 400 bis 500 €) monatlich betragen. Da der Kläger über keinerlei Vermögen verfügt und in Nigeria auch keine finanzielle Hilfe durch Familienangehörige erwarten kann, ist davon auszugehen, dass er die erforderliche medizinische Behandlung nicht wird finanzieren können. Seine Gesundheit wird sich in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr dergestalt verändern, dass er spätestens nach Ablauf dieser Zeit mit einer dann zwangsläufig zum Tode führenden HIV-assoziierten Erkrankung rechnen muss.

Dem Anspruch des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG steht auch nicht entgegen, dass es sich bei der Gefahr, welcher der Kläger ausgesetzt ist, nicht um eine individuelle, sondern um eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG handelt.

Nach der vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in Lagos vom 5.1.2001 beträgt, die Zahl der HIV-Infizierten in Nigeria zwischen 10 und 20 % der Gesamtbevölkerung. Dieser auf Schätzungen beruhende Wert bedeutet bei einer Einwohnerzahl von 124.009 Mill. Einwohnern (im Jahre 2003, Die Zeit, Lexikon in 20 Bänden, 2005) zwischen 12,4 Mill. und 24,8 Mill. HIV-infizierten Bewohnern. Hierbei handelt es sich um eine Anzahl von in Nigeria lebenden Personen, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich nur durch eine - möglichst bundeseinheitlich - politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden werden kann. Dies gilt unabhängig davon, ob bei der Einordnung der betroffenen Einwohner von Nigeria als Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG alle HIV-Infizierten unabhängig vom jeweiligen Krankheitsstadium nach der internationalen Klassifikation CDC oder nur die Gruppe der HIV-Infizierten im Stadium BIII (ARC-Stadium) in den Blick zu nehmen sind. Der Senat sieht keine Veranlassung, dieser Frage näher nachzugehen, da sie für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens ohne Bedeutung ist. Er neigt allerdings zu der Auffassung, bei der Bestimmung der Gefahr als allgemeine Gefahr auf alle HIV-Infizierten in Nigeria abzustellen, ohne dass es auf den Grad der Erkrankung ankommt (so in der Tendenz auch BVerwG, Urt. v. 27.4.1998 - 9 C 13/97 - zu einem HIV-Infizierten aus der Demokratischen Republik Kongo, zitiert nach JURIS).

Da es sich somit bei der Gefahr durch die HIV-Infektion beim Kläger um eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG handelt, ist Satz 1 dieser Vorschrift nicht anwendbar, vielmehr ist er durch Satz 2 zunächst gesperrt. Dies bedeutet aber nicht, dass ausnahmslos Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht gewährt werden darf.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach Nigeria einer im oben genannten Sinne extremen Gefahr ausgesetzt sein wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es wegen der aus finanziellen Gründen nicht möglichen Weiterbehandlung der Krankheit zu einer Verschlimmerung derselben und in der Folge zu seinem Tod kommen. Der Kläger würde somit im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Wie der Senat bereits oben ausgeführt hat, wird sich im Falle des Abbruchs der antiretroviralen Kombinationstherapie der Gesundheitszustand des Klägers innerhalb eines Vierteljahres durch ein drastisches Ansteigen der Virusbelastung dergestalt verschlechtern, dass es zu einer Destabilisierung seines Immunsystems und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer HIV-assoziierten Erkrankung kommen wird, die dann spätestens nach einem bis eineinhalb Jahren zum sicheren Tode des Klägers führen wird. Die Krankheit des Klägers würde sich also in seinem Heimatland spätestens nach drei Monaten dermaßen verschlechtern, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines, spätestens nach eineinhalb Jahren danach versterben wird. Entgegen der Auffassung des Beteiligten steht dieser Zeitraum einem Anspruch aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Insbesondere kann dem Anspruch des Klägers nicht entgegengehalten werden, mit der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und dem sicheren Tod sei nicht alsbald nach seiner Rückkehr nach Nigeria zu rechnen. Entscheidend ist nach Auffassung des Senats, dass sich der Gesundheitszustand innerhalb von drei Monaten und damit innerhalb einer kurzen Zeit nach seiner Abschiebung nach Nigeria so verschlechtern wird, dass er zwangsläufig an einer oder mehreren HIV-assoziierten Krankheiten erkranken wird, was seinen sicheren Tod zur Folge haben wird. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger in ein Land und in eine soziale Situation zurückkehren wird, in der es ihm nur schwer möglich sein wird, sich vor HIV-assoziierten Erkrankungen schützen zu können. Dies bedeutet, dass nicht nur die lebensbedrohliche Verschlimmerung der Krankheit in einem überschaubaren Zeitraum (drei Monate), sondern auch der zwangsläufige Tod des Klägers im Falle des Abbruchs der antiretroviralen Kombinationstherapie eintreten wird. In einem solchen Fall spielt es keine Rolle, ob der Tod in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise eintreten wird, oder die Folge einer in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung stehenden Verschlechterung des Krankheitsbildes darstellt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Kausalverlauf zwischen Abschiebung und damit Unterbrechung der medizinischen Behandlung in der Bundesrepublik und dem Eintritt der Verschlimmerung der Krankheit sowie dem Eintritt des Todes nicht unterbrochen werden kann, sondern diese Folgen zwangsläufig eintreten werden. In diesem Fall wird der Ausländer sozusagen sehenden Auges in den sicheren Tod zurückgeschickt. Dies führt zu einem Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, obwohl es sich bei der Gefahr, welcher der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach Nigeria ausgesetzt sein wird, um eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG handelt.