OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.04.2005 - 4 ME 73/05 - asyl.net: M6769
https://www.asyl.net/rsdb/M6769
Leitsatz:

Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung eines Ausländers, der nicht freizügigkeitsberechtigter Bürger der Europäischen Gemeinschaft ist und auch nicht aufgrund eines sonstigen Abkommens der EG mit einem anderen Staat ein Aufenthaltsrecht besitzt und rechtlich insoweit wie die EU-Bürger zu behandeln ist, ist weiterhin die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung zugrunde zu legen. Weder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geben Anlass, von dieser Praxis abzuweichen.

 

Schlagwörter: D (A), Algerier, Ausweisung, Straftäter, Freiheitsstrafe, Deutschverheiratung, Familienzusammenführung, Aufenthaltserlaubnis, Ausweisungsgründe, Ausweisung, Bestandskraft, Widerspruchsbescheid, Sperrwirkung, Nachträgliche Befristung, EGMR, Rechtsprechung, Gemeinschaftsrecht
Normen: AufenthG § 102 Abs. 1; AufenthG § 104; AufenthG § 11 Abs. 1; AufenthG § 28; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG/EWG § 12; AuslG § 45 Abs. 1; AuslG § 8 Abs. 2 S. 3; EMRK Art. 8; FreizügG/EU § 6; EWG-RL
Auszüge:

Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung eines Ausländers, der nicht freizügigkeitsberechtigter Bürger der Europäischen Gemeinschaft ist und auch nicht aufgrund eines sonstigen Abkommens der EG mit einem anderen Staat ein Aufenthaltsrecht besitzt und rechtlich insoweit wie die EU-Bürger zu behandeln ist, ist weiterhin die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung zugrunde zu legen. Weder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geben Anlass, von dieser Praxis abzuweichen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Entgegen der Meinung der Antragsteller ist bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht auf den Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung abzustellen. Es entspricht ständiger Rechtspraxis, Ausweisungsverfügungen nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung zu beurteilen. Diese Praxis führt nicht zu unbilligen Härten. Denn nach § 8 Abs. 2 S. 3 AuslG bzw. § 11 Abs. 1 AufenthG sind die Wirkungen der Ausweisung auf Antrag regelmäßig zu befristen. Das eröffnet der Ausländerbehörde die Möglichkeit, nachträglich eingetretene Umstände wie eben auch eine Eheschließung zu berücksichtigen. Zwar setzt die Befristung der Ausweisung die vorherige Ausreise des Ausländers voraus. Auch darin liegt aber regelmäßig keine unverhältnismäßige Härte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.01.1996 - BVerwG I B 3.96 -, Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 5 = InfAuslR 1996, 137). Im Übrigen wäre auch ein Abstellen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für den Ausländer nicht stets von Vorteil, weil dann auch nachteilige Umstände wie etwa eine Trennung von Eheleuten zu berücksichtigen wären.

Eine grundsätzliche Änderung dieser Rechtspraxis folgt nicht aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17.04.2003 - 52853/99 - (NJW 2004, 2147) und den in der Folge ergangenen Urteilen des BVerwG vom 03. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - (ArbuR 2004, 359 <LS> = ZAR 2004, 289 <LS> und - BVerwG 1 C 30.02 - (ArbuR 2004,359 <LS> = ZAR 2004, 288 <LS>).

Die Urteile des BVerwG betreffen freizügigkeitsberechtigte Bürger der Europäischen Gemeinschaft, die nach § 12 AufenthG/EWG i. V. m. §§ 45, 46 AuslG (ab 01. Januar 2005 nach § 6 FreizügG/EU) nur noch unter eingeschränkten Voraussetzungen ausgewiesen werden dürfen, bzw. türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen und rechtlich insoweit wie die EU-Bürger zu behandeln sind. Dass das BVerwG für diese Personengruppen nunmehr unterÄnderung seiner Rechtsprechung bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung auf den Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung abstellt, beruht darauf, dass Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG hierzu für (nur) diese Personengruppen verpflichtet. Daraus folgt aber nicht, dass dies auch für Personen gilt, die - wie der Antragsteller zu 2) - nicht zu den genannten Personengruppen und auch nicht zu anderen Gruppen von Ausländern gehören, die den genannten Gruppen durch anderweitige vertragliche oder gemeinschaftsrechtliche Regelungen insoweit gleichgestellt sind.

Dem Urteil des EGMR ist auch nicht zu entnehmen, dass nach Konventionsrecht jegliche Ausweisung eines Ausländers nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung zu beurteilen wäre. Es hat vielmehr bei seiner Entscheidung maßgeblich auf die persönliche Situation des dortigen Klägers abgestellt und auch darauf hingewiesen, dass Beziehungen zwischen Erwachsenen nicht ohne weiteres den Schutz nach Art. 8 EMRK genössen, wenn nicht zusätzliche Elemente einer Abhängigkeit dargelegt würden, die über die üblichen gefühlsmäßigen Bindungen hinausgingen. Jedenfalls das Vorliegen dieser Voraussetzungen haben die Antragsteller nicht dargelegt.