OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 25.05.2005 - 3 EO 114/05 - asyl.net: M6773
https://www.asyl.net/rsdb/M6773
Leitsatz:

1. Zu den aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen einer familiären Lebens- und Beistandsgemeinschaft nach bestandskräftig gewordener Ausweisung.

2. Die Interessenabwägung bei einer solchen Fallgestaltung muss die Frage einbeziehen, ob im Zeitpunkt der Beurteilung eine (erneute) Ausweisung in rechtlich fehlerfreier Weise ergehen könnte (i. A. an VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Mai 2000 - 13 S 2456/99 - InfAuslR 2000, 395).

 

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Abschiebungshindernis, Ausweisung, Straftäter, Drogendelikte, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Beistandsgemeinschaft, Interessenabwägung, Zukunftsprognose, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; EMRK Art. 8; AufenthG § 11 Abs. 1;
Auszüge:

1. Zu den aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen einer familiären Lebens- und Beistandsgemeinschaft nach bestandskräftig gewordener Ausweisung.

2. Die Interessenabwägung bei einer solchen Fallgestaltung muss die Frage einbeziehen, ob im Zeitpunkt der Beurteilung eine (erneute) Ausweisung in rechtlich fehlerfreier Weise ergehen könnte (i. A. an VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Mai 2000 - 13 S 2456/99 - InfAuslR 2000, 395).

(Amtliche Leitsätze)

 

In diesem Zusammenhang ist zwar der Ausgangspunkt der Erwägungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend, das darauf abgestellt hat, dass die Straftat des Antragstellers einerseits und dessen familiäre Bindungen andererseits im bestandskräftig abgeschlossenen Ausweisungsverfahren bereits berücksichtigt worden seien und sich nachhaltige Änderungen der familiären Verhältnisse nach Eintritt der Bestandskraft des Ausweisungsbescheides nicht ergeben hätten. Denn aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung steht nicht zugleich fest, dass die Abschiebung des Antragstellers mit Art. 6 GG vereinbar ist. Dies folgt sowohl aus der Unterschiedlichkeit der Streitgegenstände sowie daraus, dass die sich im Verlaufe der letzten anderthalb Jahre - seit der Entlassung des Antragstellers aus der Strafhaft - entwickelte intensivere Beziehung zu seinem Sohn im Ausweisungsverfahren noch keine Berücksichtigung finden konnte (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Mai 2000 - 13 S 2456/99 - lnfAuslR 2000, 395 = EZAR 020 Nr. 14).

Im Rahmen einer auf die derzeitige Sach- und Rechtslage bezogenen Prüfung sind allerdings die nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG beachtlichen familiären Bindungen in ihrem Gewicht gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet wegen des Ausweisungsgrundes nachrangig. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen - im Blick auf die ausländerrechtlichen Vorschriften über die Voraussetzungen für eine Ausweisung (vgl. §§ 53 ff. AufenthG) - kommt ein Abschiebungsschutz nach Art. 6 GG nur in Betracht, wenn zum jetzigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine (nunmehr verfügte) Ausweisung unter Berücksichtigung des Familienschutzes keinen Bestand haben könnte, soweit nach der maßgebenden Rechtsgrundlage dafür Raum ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Mai 2000 - 13 S 2456/99 - a. a. O.). So liegt es hier.

Die rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Antragstellers zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 29a Abs. 1 Nr.2 BtMG) erfüllt auch nach neuem Recht einen Tatbestand, aufgrund dessen die Ausweisung grundsätzlich zwingend zu erfolgen hat (vgl. § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG). Dem stünde auch der besondere Ausweisungsschutz des Antragstellers im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau und dem gemeinsamen Kind (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr.4 AufenthG) nicht entgegen. Es liegen - auch aus heutiger Sicht - schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Diese Voraussetzung ist gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in den Fällen der sogenannten "Ist-Ausweisung" (§ 53 AufenthG) - wie hier - in der Regel erfüllt. Ein vom Regelfall abweichender - eine Ausweisung hindernder - Ausnahmefall ist nicht ersichtlich.

Die Antragsgegnerin wäre - aus jetziger Sicht - gehalten, von der ihr somit eingeräumten Befugnis, den Antragsteller auszuweisen, auch Gebrauch zu machen. Nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn - wie hier - ein Ausweisungstatbestand nach § 53 AufenthG vorliegt. Umstände, die einen Ausnahmefall begründen könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen. Zu diesen Umständen gehören auch die FoIgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten und mit ihm in einer familiären Lebensgemeinschaft leben. Daraus folgt, dass auch bei dem bereits aus Gründen des familiären Zusammenlebens gegebenen besonderen Ausweisungsschutz (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) die konkrete familiäre Situation bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, berücksichtigt werden muss. Ein Ausnahmefall ist insbesondere dann gegeben, wenn der Ausweisung auch unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes höherrangiges Recht entgegensteht, sie insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (z. B. Art. 6 GG) nicht vereinbar ist (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 1997 - 1 B 123.97 - a. a. O. m. w. N.).

Wie das Verwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom 21. November 2002 (Az.: 4 K 1636/01) für die entsprechende frühere Vorschrift des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG zutreffend festgestellt hat, kann der Umstand, dass ein Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen zusammen lebt, für sich allein keine Abweichung vom Regelfall begründen; Entsprechendes gilt für die Regelung des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Die mit einer familiären Lebensgemeinschaft typischerweise verbundenen Bindungen zwischen den Familienangehörigen hat der Gesetzgeber in den Fällen des § 53 AufenthG gegenüber dem öffentlichen Belang an der Beendigung des Aufenthalts als nachrangig eingestuft. Diese gesetzgeberische Wertung, die insbesondere bei Handel mit Rauschgift - auch im Blick auf die Gewährleistungen des Art. 6 G - grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 6. August 1993 - 1 B 113.93 - Buchholz 402.240 § 48 Au IG 1990 Nr. 1 m. w. N.), darf nicht konterkariert werden.

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind Anhaltspunkte dafür, dass die familiären Bindungen des Antragstellers zu seiner Ehefrau und seinem Kind über die typischerweise zwischen engsten Familienangehörigen bestehende Verbundenheit hinausgehen, nicht ersichtlich. Dem Vorbringen des Antragstellers ist insbesondere nicht zu entnehmen, dass zum jetzigen Zeitpunkt er oder seine Ehefrau oder sein Kind in besonderer Weise, d. h. mehr als im Regelfall, auf persönliche Beistandsleistungen des jeweils anderen Familienmitglieds angewiesen wäre. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Erkrankung des Schwiegervaters, der selbst nicht zur Kernfamilie zählt, nicht an.

Könnte nach alledem eine Ausweisung des Antragstellers - auch aus heutiger Perspektive - ohne Verstoß gegen Art. 6 G verfügt werden, gilt Entsprechendes hinsichtlich des in Art. 8 Abs. 1 EMRK verbürgten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Diese Bestimmung vermittelt keinen gegenüber Art. 6 GG weitergehenden Schutz, soweit sich ihr Anwendungsbereich mit dem der grundgesetzlichen Norm deckt (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19.96 - BVerwGE 106, 13 = InfAuslR 1998, 213 = DVBI. 1998, 722 = NVwZ 1998, 742).