VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 10.05.2005 - 23 B 05.30217 - asyl.net: M6779
https://www.asyl.net/rsdb/M6779
Leitsatz:

Keine Anwendung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG auf Widerrufsentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die vor dem 1. Januar 2005 getroffen worden sind.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsschutz, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Entscheidungszeitpunkt, Machtwechsel, Baath, Terrorismus, Situation bei Rückkehr, Menschenrechtswidrige Behandlung, Anerkennungsrichtlinie, Genfer Flüchtlingskonvention, Allgemeine Gefahr, Erlass, Abschiebungsstopp, Ermessen, Kriminalität, Nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG
Auszüge:

Keine Anwendung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG auf Widerrufsentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die vor dem 1. Januar 2005 getroffen worden sind.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Der Widerruf der Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 AsylVfG, der Widerruf der Feststellungen von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 4 und 6 AuslG in § 73 Abs. 3 AsylVfG.

Die Kläger haben nach Überzeugung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak in Folge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Auch soweit § 60 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzungen für den Abschiebungsschutz politisch Verfolgter weiter fasst als die Vorgängerregelung in § 51 Abs. 1 AuslG, wirkt sich dieser übergreifende Schutz nicht zugunsten der Kläger aus. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 liegen ebenfalls nicht vor, was auch den Widerruf nach § 73 Abs. 3 AsylVfG im angegriffenen Bescheid rechtfertigt.

Wie den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen zu entnehmen ist, hat das bisherige Regime Saddam Husseins durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren.

Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seiner Machtstrukturen ist eine asylrelevante Verfolgung irakischer Staatsangehöriger durch dessen Regime nicht mehr möglich.

Allerdings sind im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist die allgemeine Sicherheitslage nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden, was auch Anfang Juli 2004 zum Erlass eines Notstandsgesetzes führte.

Wie den genannten Informationsquellen weiter entnommen werden kann, ist gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 60 Abs. 1 S. 4 Buchst. c AufenthG) sind die Übergriffe auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aber nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung begründen könnten (so auch OVG Rheinland-Pfalz vom 24.1.2005 Az: 10 A 1001/05.OVG zur Situation der Christen im Irak).

Vor diesem Hintergrund sind staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern in den Irak nicht ersichtlich. Daher kann schon nicht § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zur Anwendung kommen. Denn unmenschliche Behandlungen im Sinne dieser Vorschrift setzen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur Misshandlungen durch staatliche Organe voraus (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331). Zu einer Änderung seiner Rechtsprechung sah sich das Bundesverwaltungsgericht auch nicht durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes veranlasst, vielmehr betonte es in seinem Urteil vom 15.4.1997 (BVerwGE 104, 265 = NVwZ 1997, 1127 = DVBl 1997, 1384 = InfAuslR 1997, 341), dass landesweit drohende unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlungen grundsätzlich vom Abschiebezielstaat ausgehen oder von ihm zu verantworten sein müssen.

Das Aufenthaltsgesetz brachte gegenüber dem bisherigen Ausländergesetz insoweit keine Veränderungen der Rechtslage. Der Wortlaut des § 53 Abs. 4 AuslG wurde unverändert in § 60 Abs. 5 AufenthG übernommen. Hätte der Gesetzgeber eine Ausweitung der Abschiebungshindernisse im Rahmen dieser Vorschrift beabsichtigt, hätte er deren Wortlaut ändern und anders fassen müssen. Dieses unterblieb jedoch. Aus der EU-Richtlinie 2004/83 vom 29. April 2004, welche spätestens am 10. Oktober 2006 in nationales Recht umgesetzt werden muss, kann die Klagepartei keine weitergehenden Ansprüche herleiten. Auch nicht aus deren möglicher Vorwirkung, weil die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz (Art. 15 der Richtlinie) nicht hinter dem Schutz zurückbleiben, den § 60 Abs. 2 ff. AufenthG gewährt.

Soweit die Klagepartei sich wegen des ihrer Ansicht nach fehlenden Wegfalls der Verfolgungsgefahr durch eine grundlegende und dauerhafte Änderung der Umstände im Herkunftsland auf Art. 1 C Nr. 5 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) beruft, verkennt sie, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dem Ausländer, dessen Asylanerkennung mangels gegenwärtiger Verfolgungsbetroffenheit nicht in Betracht kommt, Schutz vor existenzbedrohenden wirtschaftlichen Notlagen bei Rückkehr ins Heimatland nach allgemeinem Ausländerrecht (Gestattung weiteren Aufenthaltes) zu gewähren ist (BVerwG v. 31.1.1989, BVerwG 9 C 43.88, Buchholz 412.25 § 1 AsylVfG Nr. 103). Zu diesem Schutz wurden in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG Abschiebungsverbote vorgesehen, deren Voraussetzungen hier nicht vorliegen.

Auch die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, der die Kläger bei Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt wären, begründet keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Das Bayer. Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az: A I 2-2084.20-13) die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt und verfügt, dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate verlängert werden. Die Konferenz der Länderinnenminister hat wiederholt, zuletzt am 19. November 2004, die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak nicht möglich ist (vgl. u.a. Asylmagazin 2004/12 S. 17). Demzufolge wurde auch in Bayern die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin ausgesetzt (vgl. u.a. Schreiben des Bayer. Staatsministerium des Innern vom 10.2.2005 und 30.4.2004).

Der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 73 Abs. 2 a AsylVfG steht der Rechtmäßigkeit des vor diesem Zeitpunkt erlassenen Widerrufsbescheides nicht entgegen. Das Bundesamt hat bezüglich des Widerrufs zu Recht eine Rechts- und keine Ermessensentscheidung getroffen. Denn die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG lagen im Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht vor. Nach dieser Bestimmung hat das Bundesamt spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der anerkennenden Entscheidung zu prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG oder eine Rücknahme nach § 73 Abs. 2 AsylVfG vorliegen. Erfolgt nach einer solchen Prüfung ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht, steht eine spätere Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung im Ermessen des Bundesamtes.

Diese Regelung konnte (und durfte) das Bundesamt bei seinen Entscheidungen am 19. und 20. April 2004 noch nicht berücksichtigen.

Das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) führte unter anderem zwar § 73 Abs. 2 a in das Asylverfahrensgesetz ein. Diese Änderung trat aber erst am 1. Januar 2005 in Kraft (Art. 15 Abs. 3 1. HS Zuwanderungsgesetz). Entsprechende Überleitungsregelungen oder Rückwirkungsbestimmungen fehlen (vgl. auch § 87 Abs. 1, § 87 b AsylVfG). Daher kann die in § 73 Abs. 2 a Satz 1 normierte Drei-Jahres-Frist erst mit dem 1. Januar 2005 zu laufen begonnen haben. Weiter bedeutet dies, dass das Bundesamt das im Zeitpunkt seiner Entscheidungen -­ April 2004 -­ geltende Verfahrensrecht, nämlich § 73 Abs. 1 AsylVfG a.F., anzuwenden und eine Rechtsentscheidung zu treffen hatte (vgl. BVerwG v. 26.03.1985 NVWZ 1986, 45 f zu nach altem Recht bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitten).

Nur wenn das Verwaltungsverfahren im Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 73 Abs. 2 a AsylVfG noch nicht abgeschlossen gewesen wäre, hätte die Behörde ihre Vorgehensweise an den Vorgaben dieser neuen Bestimmung ausrichten müssen, weil das Gesetz unschwer erkennbar für das Bundesamt in Zukunft eine obligatorische Prüfpflicht einführt, nicht aber rückwirkend, für die Vergangenheit, eine solche -­ mit allen ihren verwaltungstechnischen Schwierigkeiten -­ schafft (vgl. insoweit auch BVerwG v.26.03.1985 a.a.O.).

Die gesetzlichen Neuregelungen haben somit zur Folge, dass die Prüfungen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme nach § 73 Abs. 1 oder Abs. 2 AsylVfG vorliegen, in allen Anerkennungsverfahren spätestens bis zum Ablauf der Drei-Jahres-Frist nach Bestandskraft der Entscheidung (in am 1. Januar 2005 bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren bis 1. Januar 2008) zu erfolgen haben. Erst durch eine solche Prüfung, die ohne Erlass eines Widerrufs oder Rücknahmebescheides endet, kann die Rechtsfolge des § 73 Abs. 2 a Satz 3 AsylVfG, nämlich das Treffen einer Ermessensentscheidung im Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren, in Zukunft ausgelöst werden.