VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 29.11.2004 - 7 UE 3377/03.A - asyl.net: M6838
https://www.asyl.net/rsdb/M6838
Leitsatz:

Keine extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG für Bosniaken aus dem Kosovo oder für Rückkehrer allgemein; jedenfalls inländische Fluchtalternative im übrigen Serbien und Montenegro eröffnet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Bosnier, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Märzunruhen, Erlasslage, Existenzminimum, Medizinische Versorgung, Wohnraum, Interne Fluchtalternative, Freizügigkeit, Registrierung, Sozialleistungen, Situation bei Rückkehr
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

 

Die Klägerseite hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG.

Dem Senat stellt sich die Sicherheitslage der Volksgruppe der Kosovo-Bosniaken nach den vorliegenden Erkenntnisquellen als relativ stabil dar (vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 17.9.2001 (144.)). Die Bosniaken werden von Albanern und Serben gleichermaßen toleriert (AA an VG Aachen v. 8.5.2001 (137.)).

Auf der Grundlage dieser Auskünfte und angesichts der bestehenden Erlasslage geht der Senat davon aus, dass die Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen ihrer Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Bosniaken einer extremen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein werden.

Auch aus der allgemeinen wirtschaftlichen Lage erwachsen den Klägern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit existenzielle Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit.

Zum einen haben die Kläger die Möglichkeit, von den Erzeugnissen ihrer Vieh- und Landwirtschaft, um die sich inzwischen die Mutter der Klägerin zu 2. kümmert, zu leben, wie sie es auch vor ihrer Ausreise aus ihrem Heimatland getan haben. Sie verfügen auch über ein eigenes Haus, wie die Klägerin zu 2. im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge dargelegt hat, das ihnen nach wie vor zur Verfügung steht.

Zum anderen ist ein Leben über dem Existenzminimum im Kosovo durch die Anwesenheit der KFOR-Truppen, die Zivilpräsenz der UNO und die Aktivitäten von über 300 Hilfsorganisationen gewährleistet. Deren Einsatz hat zur Folge, dass Rückkehrer auch im Übrigen nicht in eine ausweglose Situation geraten.

Rückkehrer müssen auf Dauer auch nicht mit völlig unzureichenden Wohnverhältnissen oder mit Obdachlosigkeit rechnen. Zwar wurden im Verlauf der Kosovo-Krise fast 120.000 Häuser in Mitleidenschaft gezogen, davon 100.000 schwer beschädigt oder völlig zerstört. Nach Angaben von UNHCR und UNMIK sind bisher mehr als 40.000 Häuser repariert worden (AA, Ad hoc-Bericht v. 27.11.2002 (167.); Lagebericht v. 10.2.2004 (190.)). Außerdem konnten schon vor Einbruch des Winters 1999/2000 etwa 400.000 Menschen winterfeste Räume zur Verfügung gestellt werden. Zusätzlich wurden temporäre Sammelunterkünfte bereitgestellt (UNHCR an VG Kassel v. 4.10.2000 (124.)). Inzwischen werden längerfristig angelegte Programme zum Wiederaufbau von Wohnraum von der Abteilung für Wiederaufbau der UNMIK (JIAS - Joint Interim Administration Structure) und Entwicklungshilfeorganisationen durchgeführt. Abteilungen der JIAS haben auch die Bereitstellung von Notunterkünften für Bedürftige übernommen (UNHCR an VG Kassel v. 4.10.2000 (124.)).

Auch der gegenwärtige Zustand des Gesundheitswesens im Kosovo begründet keine existenzielle Notlage für zurückkehrende Menschen. Zwar wurde durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen bis Juni 1999 auch der Gesundheitssektor durch Flucht oder Tod von medizinischem Personal, Zerstörung von medizinischen Einrichtungen sowie Versorgungsengpässen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Inzwischen haben aber die medizinischen Versorgungseinrichtungen im Kosovo in den meisten Orten wieder das Vorkriegsniveau erreicht. Grundsätzlich ist die Behandlung aller Erkrankungen möglich. Die Versorgung mit Medikamenten ist in Universitätsklinik in Pristina am besten; sie hängt aber weiterhin fast ausschließlich von Hilfslieferungen internationaler Organisationen ab. In den staatlichen Gesundheitszentren können trotz der großen Anstrengungen der Hilfsorganisationen Medikamente im Einzelfall fehlen. Ansonsten ist die staatliche (Gratis-)Versorgung mit Medikamenten (zunächst) gesichert. Wenn in staatlichen Strukturen Medikamente nicht erhältlich sind, können diese oft in privaten Apotheken gekauft werden. Die internationale Gemeinschaft kann in der Regel, sofern es die Finanzlage zulässt, jedes Medikament beschaffen (AA an VG Sigmaringen v. 15.2.2000 (75.); AA, Lagebericht 10.2.2004 (190.)).

Die Behandlung psychisch kranker Menschen hat sich im Kosovo dank der Unterstützung internationaler Organisationen verbessert. Ambulante Behandlungen sind in verschiedenen Regionen des Kosovo möglich; in Shtime existiert eine psychiatrische Anstalt. In den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser gibt es derzeit noch keine Therapiekonzepte nach westeuropäischen Maßstäben; die Behandlung erfolgt vornehmlich medikamentös.

Schließlich hat sich auch die allgemeine Sicherheitslage im Kosovo erheblich verbessert. Zwar haben eine weit verbreitete Gewaltbereitschaft, die große Zahl frei zirkulierender Waffen, organisierte Kriminalität und das Dominanzstreben ehemaliger UCK-Angehöriger negative Auswirkungen auf die Sicherheitslage (AA, Ad hoc-Bericht v. 27.11.2002 (167.); AA, Ad hoc-Bericht v. 4.6.2002 (157.)). Die festzustellende Gewaltbereitschaft hat sich inzwischen aber erheblich reduziert. Dies beruht zum einen auf dem Einsatz der KFOR-Streitkräfte, die zur Zeit über ca. 17.500 Soldaten verfügen. Zum anderen ist der Aufbau einer lokalen, multi-ethnischen Polizei weit vorangetrieben worden. Der Aufbau des Justizwesens geht ebenfalls voran; derzeit sind ca. 360 örtliche Richter und Staatsanwälte aus allen ethnischen Gruppen tätig (AA, Ad hoc-Bericht v. 27.11.2002 (167.); AA, Lagebericht v. 10.2.2004 (190.)). Vor diesem Hintergrund besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Klägerseite, Opfer von Gewalttätigkeiten im Kosovo zu werden.

Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen besteht für die Klägerseite die Möglichkeit, sich in Serbien und Montenegro außerhalb des Kosovo niederzulassen. Auch hier droht ihr keine individuelle konkrete Gefahr in eingangs erläuterten Sinne. Die Klägerseite verfügt wegen ihrer Staatsangehörigkeit des früheren Jugoslawien über die Staatsangehörigkeit von Serbien und Montenegro (vgl. dazu Hess. VGH, B. v. 16.06.2004 - 7 TG 1268/04 -, v. 29.04.2004 - 7 TG 858/04 -). Nach Art. 8 der serbisch-montenegrinischen Verfassungscharta besitzen Staatsangehörige der Republiken Serbien und Montenegro ex lege die Staatsangehörigkeit der Union (AA, Lagebericht v. 24.2.2004, S. 37 (196.)).

Mit der Staatsangehörigkeit ist auch das Recht auf Freizügigkeit verbunden (AA, Lagebericht v. 24.2.2004, S. 24 (196.)). Staatsangehörige Serbiens und Montenegros haben unabhängig von ihrem Herkunftsort und ihrer ethnischen Zugehörigkeit das Recht, freiwillig nach Serbien und Montenegro einzureisen und dort ihren ständigen Aufenthalt zu nehmen. Voraussetzung hierfür ist in praxi das Vorliegen von Unterlagen, aus denen die Staatsangehörigkeit eindeutig hervorgeht.

Aus dem Kosovo stammende Staatsangehörige Serbiens und Montenegros bosnischer Volkszugehörigkeit, die in Serbien und Montenegro ihren ständigen Aufenthalt nehmen, genießen die gleichen Rechte wie alle anderen Staatsangehörigen Serbiens und Montenegros. Dies gilt u.a. für den Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu sozialen Leistungen einschließlich Sozialhilfe (AA an VG Sigmaringen, 21.5.2003 (177.)).

Aus dem Kosovo stammende Angehörige ethnischer Minderheiten (Serben, Roma, Ashkali etc.) können sich auch dann in Serbien als intern Umgesiedelte registrieren lassen und entsprechende Sozialleistungen in Anspruch nehmen, wenn sie nicht direkt aus ihren Herkunftsorten nach Inner-Serbien einreisen, sondern sich vorher, gegebenenfalls über längere Zeit, im Ausland aufgehalten haben. Voraussetzung für die Registrierung ist allerdings, dass sie nicht aus einer der noch heute mehrheitlich von Serben und anderen nichtalbanischen Minderheiten bewohnten Enklaven stammen. Als Enklaven werden derzeit die Gemeinden Kosovska Mitrovica (nördlicher Teil), Leposavic, Strpe, Zubin Patok und Zvecan gewertet.

Die medizinische Versorgung ist sichergestellt. Belgrad und alle größeren Städte in Serbien und Montenegro sind mit allgemeinen Krankenhäusern ausgestattet. Medizinische Eingriffe, die in Westeuropa Standard sind, werden trotz der mangelhaften Ausrüstung in fast allen Teilen des Landes durchgeführt; allerdings entstehen aufgrund von Engpässen für viele staatlich finanzierte Behandlungen oft lange Wartelisten. Lebensbedrohliche Erkrankungen werden jedoch im Regelfall sofort behandelt. Es gibt nur sehr wenige Erkrankungen, die in Serbien und Montenegro aufgrund fehlender Ausrüstungen grundsätzlich nicht oder nur schlecht behandelt werde können. Die Grundversorgung mit häufig verwendeten, zunehmend auch mit selteneren Medikamenten ist gewährleistet (AA, Lagebericht v.24.2.2004 (196.)).