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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - asyl.net: M6847
https://www.asyl.net/rsdb/M6847
Leitsatz:

Ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich ARB Nr. 1/80 EWG/Türkei Zugang zum Arbeitsmarkt hat, verliert dieses Recht nicht deswegen, weil er während seiner – auch mehrjährigen – Inhaftierung und anschließender Drogentherapie vom Arbeitsmarkt abwesend ist oder weil er im Zeitpunkt der Ausweisung volljährig war und nicht mehr bei dem Stammberechtigten türkischen Arbeitnehmer wohnte.

 

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Türken, Arbeitnehmerbegriff, Haft, Drogentherapie, Ausweisung, Familienangehörige, Schutz von Ehe und Familie
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 6; ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 14 Abs. 1
Auszüge:

Ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich ARB Nr. 1/80 EWG/Türkei Zugang zum Arbeitsmarkt hat, verliert dieses Recht nicht deswegen, weil er während seiner – auch mehrjährigen – Inhaftierung und anschließender Drogentherapie vom Arbeitsmarkt abwesend ist oder weil er im Zeitpunkt der Ausweisung volljährig war und nicht mehr bei dem Stammberechtigten türkischen Arbeitnehmer wohnte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zu den Vorlagefragen

Diese Fragen gehen alle dahin, ob ein türkischer Staatsangehöriger wie Herr Aydinli, der nach Artikel 7 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 im Aufnahmemitgliedstaat ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erworben hat, dieses Recht verlieren kann, weil er zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung ursprünglich nicht zur Bewährung ausgesetzt war, zum Teil aber durch die Verpflichtung ersetzt wurde, eine Langzeitdrogentherapie zu absolvieren.

Um hierauf eine sachdienliche Antwort zu geben, ist erstens an die Rechtsprechung zu erinnern, nach der Artikel 7 Absatz 1 den Fall eines türkischen Staatsangehörigen erfasst, der als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört oder angehört hat, entweder die Genehmigung erhalten hat, zum Zweck der Familienzusammenführung dorthin zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen, oder der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat. Der Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf diese Art von Fällen steht nicht entgegen, dass der Betroffene zum streitigen Zeitpunkt volljährig ist und nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft mit seiner Familie zusammenlebt, sondern im betreffenden Mitgliedstaat ein vom Arbeitnehmer unabhängiges Leben führt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. März 2000 in der Rechtssache C-329/97, Ergat, Slg. 2000, I-1487, Randnrn. 26 und 27, sowie vom 11. November 2004 in der Rechtssache C-467/02, Cetinkaya, Slg. 2004, I-0000, Randnr. 34).

Ein solcher türkischer Staatsangehöriger verliert daher ein nach dieser Bestimmung erworbenes Recht nicht deshalb, weil Umstände der in der vorstehenden Randnummer genannten Art eintreten. Zudem soll das Recht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, nach einer gewissen Zeit Zugang zu einer Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat zu haben, gerade ihre Stellung in diesem Staat festigen, indem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, unabhängig zu werden.

Darüber hinaus verlangt zwar Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 grundsätzlich, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers mit diesem während des Zeitraums von drei Jahren, in denen der Betroffene selbst nicht die Voraussetzungen für einen Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllt, eine tatsächliche Lebensgemeinschaft führt (vgl. Urteile vom 17. April 1997 in der Rechtssache C-351/95, Kadiman, Slg. 1997, I-2133, Randnrn. 33, 37, 40, 41 und 44, sowie Cetinkaya, Randnr. 30), doch sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers auch noch nach Ablauf dieses Dreijahreszeitraums von Voraussetzungen abhängig zu machen; das gilt erst recht für einen türkischen Migranten, der die Voraussetzungen des Artikels 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich erfüllt (vgl. Urteile Ergat, Randnrn. 37 bis 39, und Cetinkaya, Randnr. 30).

Der Gerichtshof hat insoweit bezüglich der in Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Familienangehörigen, die wie Herr Aydinli nach fünfjährigem ordnungsgemäßem Wohnsitz gemäß dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung ein Recht auf freien Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat erworben haben, entschieden, dass aus der unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung nicht nur folgt, dass die Betroffenen hinsichtlich der Beschäftigung ein individuelles Recht unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 herleiten können, sondern dass die praktische Wirksamkeit dieses Rechts außerdem zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzt, das vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist (vgl. Urteile Ergat, Randnr. 40, und Cetinkaya, Randnr. 31, sowie entsprechend Urteil vom heutigen Tag in der Rechtssache C-383/03, Dogan, Slg. 2005, I-0000, Randnr. 14).

Folglich kann der Umstand, dass die Voraussetzung für die Gewährung des fraglichen Rechts, im vorliegenden Fall die während einer gewissen Dauer bestehende Lebensgemeinschaft mit dem türkischen Arbeitnehmer, nicht mehr vorliegt, nachdem der Familienangehörige dieses Arbeitnehmers das in Rede stehende Recht erworben hat, dieses Recht nicht in Frage stellen.

Zweitens ergibt sich aus der Rechtsprechung , dass das Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers zusteht, die die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen, in zwei Fällen Beschränkungen unterliegt. Entweder gefährdet gemäß Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 der Aufenthalt des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats durch das persönliche Verhalten des Betroffenen die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile Ergat, Randnrn. 45, 46 und 48, sowie Cetinkaya, Randnr. 36).

Dagegen lässt es Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht zu, dass die Rechte, die einem türkischen Staatsangehörigen in der Lage von Herrn Aydinli durch diese Bestimmung verliehen werden, nach einer Verurteilung zu einer -­ auch mehrjährigen -­ Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zunächst nicht zur Bewährung ausgesetzt war und an die eine Langzeitdrogentherapie anschließt, wegen der längeren Abwesenheit dieses Staatsangehörigen vom Arbeitsmarkt beschränkt werden (vgl. entsprechend Urteil Cetinkaya, Randnr. 39).

Die in der vorstehenden Randnummer dargestellte Auslegung ist insbesondere deswegen geboten, weil im Unterschied zu Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80, der die türkischen Arbeitnehmer betrifft, die Entstehung der Beschäftigungsrechte der Familienangehörigen eines solchen Arbeitnehmers nach Artikel 7 Absatz 1 dieses Beschlusses nicht davon abhängt, dass diese Familienangehörigen dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Staates angehören und während einer bestimmten Dauer eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben, sondern lediglich davon, dass die Betroffenen während einer Anfangszeit von drei Jahren ihren Wohnsitz tatsächlich bei dem Arbeitnehmer haben, von dem sie ihre Rechte ableiten. Zudem gewährt Artikel 7 Absatz 1 erster und zweiter Gedankenstrich den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers Zugang zu einer Beschäftigung, erlegt ihnen jedoch keine Verpflichtung auf, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, wie sie in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses vorgesehen ist.

Daraus folgt zum einen, dass die Bestimmungen von Artikel 6 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 im Rahmen des Artikels 7 des Beschlusses auf keinen Fall anwendbar sind . Nur für die Zwecke der Berechnung der für die Entstehung der Rechte aus Artikel 6 Absatz 1 erforderlichen Beschäftigungszeiten sieht nämlich Artikel 6 Absatz 2 vor, dass sich verschiedene Fälle der Unterbrechung der Arbeit auf diese Berechnung auswirken (vgl. Urteil Dogan, Randnr. 15).

Zum anderen ergibt sich daraus, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers, der die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1 /80 erfüllt und eine Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat ausüben möchte, nicht verpflichtet ist, die strengeren Voraussetzungen zu erfüllen, die insoweit in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses aufgestellt sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 19. November 1998 in der Rechtssache C-210/97, Akman, Slg. 1998, I-7519, Randnrn. 48 bis 50).

Nach alledem ist auf die fünfte, die sechste und die siebte Frage zu antworten, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Artikel 7 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 im Aufnahmemitgliedstaat ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erworben hat, dieses Recht weder deswegen verliert, weil er aufgrund einer ­ auch mehrjährigen ­ Inhaftierung und anschließenden Langzeitdrogentherapie länger vom Arbeitsmarkt abwesend ist, noch deswegen, weil er zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei dem türkischen Arbeitnehmer hatte, von dem er sein Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, sondern ein von diesem unabhängiges Leben führte.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Artikel 7 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem aufgrund des Abkommens über eine Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzten Assoziationsrat erlassen wurde, im Aufnahmemitgliedstaat ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, verliert dieses Recht weder deswegen, weil er aufgrund einer -­ auch mehrjährigen -­ Inhaftierung und anschließenden Langzeitdrogentherapie länger vom Arbeitsmarkt abwesend ist, noch deswegen, weil er zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei dem türkischen Arbeitnehmer hatte, von dem er sein Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, sondern ein von diesem unabhängiges Leben führte.