OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 21.04.2005 - 3 Bf 15/05.A - asyl.net: M6853
https://www.asyl.net/rsdb/M6853
Leitsatz:

Der auf die Verletzung rechtlichen Gehörs gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung nach §§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO ist abzulehnen, wenn die im erstinstanzlichen Verfahren unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG unberücksichtigt gebliebene Tatsache unter keinen Umständen den klageweise geltend gemachten Anspruch zu stützen vermag.

 

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Darlegung, Rechtliches Gehör, Sachverhaltsaufklärung, Urteilsgründe
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1; VwGO 144 Abs. 4
Auszüge:

Der auf die Verletzung rechtlichen Gehörs gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung nach §§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO ist abzulehnen, wenn die im erstinstanzlichen Verfahren unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG unberücksichtigt gebliebene Tatsache unter keinen Umständen den klageweise geltend gemachten Anspruch zu stützen vermag.

(Amtlicher Leitsatz)

 

1) Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) zuzulassen. Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung ist von dem Kläger nicht dargelegt worden (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG). Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Berufungsentscheidung erhebliche Frage aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts der Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG verlangt die Bezeichnung einer konkreten Frage, die für die Berufungsentscheidung erheblich sein wird, und einen Hinweis auf den Grund, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll. Der Zulassungsantrag muss daher erläutern, dass und inwiefern die Berufungsentscheidung zur Klärung einer bisher von der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht beantworteten fallübergreifenden Frage führen kann (vgl. z.B. BVerwG, Beschl. v. 14.5.1997, Buchholz 451.20 § 35 GewO Nr. 68). Es muss insbesondere substantiiert dargelegt werden, dass die als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage auch tatsächlich streitig, d.h. nicht schon im Zeitpunkt der Stellung des Zulassungsantrags aufgrund der Auskunftslage oder Rechtsprechung eindeutig zu beantworten ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 10.1.1996 - OVG Bs VI [VII] 77/94). Jedenfalls aber muss die Frage, die einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung verleihen soll, über den Einzelfall hinausreichen und für eine Vielzahl weiterer Rechtstreitigkeiten bedeutsam sein (OVG Hamburg, Beschl. v. 5.6.1992 - OVG Bs VII 33,34/91; weitergehend OVG Bremen, Beschl. v. 23.10.1987 - OVG 2 B 132/87 -). Diese Voraussetzung ist nicht bereits dann erfüllt, wenn die Frage in einer Mehrzahl von Verfahren entscheidungserheblich ist, sondern erst dann, wenn die Zahl der Rechtsstreitigkeiten, in denen sie sich stellt, von einem solchen Gewicht ist, dass ihre Klärung "Bedeutung auch für die Allgemeinheit hat und sich auf deren Interessen auswirkt" (BVerwG, Urt. v. 31.7.1984, Buchholz 402.25 § 32 AsylVfG Nr. 4 S. 9). Bei der Entscheidung, ob dies angenommen werden kann, ist die Wertung des Gesetzgebers zu beachten, dass für Asylklagen grundsätzlich nur eine Gerichtsinstanz zur Verfügung stehen soll. Dies verbietet eine weite Auslegung des Merkmals "grundsätzliche Bedeutung".

Die im Zulassungsantrag formulierte Frage, "ab wann von einer grundsätzlichen Änderung der Verhältnisse auszugehen ist", ist für sich betrachtet zu unbestimmt, als dass sie die Zulassung der Berufung rechtfertigen könnte.

2) Die Berufung ist nicht deshalb zuzulassen, weil das Verwaltungsgericht dem Kläger das rechtliche Gehör versagt hat (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO).

a) Es ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör hinreichend dargelegt hat (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG).

Dies gilt einmal im Hinblick auf die von dem Kläger gerügten irrigen Annahmen des Verwaltungsgerichts, die sich nicht auf sein Vorbringen im gerichtlichen Verfahren, sondern auf sonstige in den Akten enthaltene - von ihm selbst nicht schriftsätzlich vorgetragene - Informationen beziehen. Art. 103 Abs. 1 GG will möglicherweise nur sicherstellen, dass das von einer prozessführenden Partei im Rechtsstreit Vorgebrachte von dem Richter zur Kenntnis genommen und erwogen wird. Wenn nach einer Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts ein Gericht den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch dadurch verletzt, dass es von einem teilweise aktenwidrigen und unrichtigen Sachverhalt ausgeht (BVerwG, Urt. v. 15.4.1997, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 274), so bedarf dies vielleicht der Einschränkung. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, wenn der Richter zu einer möglicherweise unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit zur Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist (BVerfG, Beschl. v. 19.7.1967, BVerfGE Bd. 22 S. 267, 273 f.; BVerfG [1. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 4.4.1991, InfAuslR 1991 S. 262, 263).

Soweit der Kläger aber rügt, das Verwaltungsgericht habe von ihm selbst vorgetragene Tatsachen verkannt - hier kommt insbesondere in Betracht, dass er entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht nach Deutschland eingereist, sondern hier geboren ist -, hätte er wohl genau angeben müssen, in welchem Schriftsatz er eine entsprechende Information gegeben hat. Es ist schwerlich Sache des Berufungsgerichts, den gesamten bisherigen Akteninhalt auf jenes Vorbringen hin durchzusehen und auf diese Weise erst die Gehörsrüge schlüssig zu machen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.1.1998 - 6 B 92/97 -, Juris).

Im Übrigen spricht Überwiegendes dafür, dass der Kläger hinsichtlich jeder der von ihm erhobenen Gehörsrügen hätte darlegen müssen, inwiefern das Verwaltungsgericht zu einer ihm günstigeren Entscheidung hätte gelangen müssen, wenn dem Gericht der betreffende Irrtum nicht unterlaufen wäre. Die Rüge, das rechtliche Gehör sei verletzt, erfordert, wenn eine Prozesspartei am Vortrag gehindert worden ist, regelmäßig die substantiierte Darlegung dessen, was sie bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl. z.B. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997, Buchholz 310 § 133 (n.F.) VwGO Nr. 26). Ist eine Partei dagegen wie hier durchaus zu Wort gekommen, ihre Erklärung vom Gericht aber nicht richtig aufgenommen worden, so liegt es nahe, von ihr die Darlegung zu verlangen, welche Konsequenzen für seine Entscheidung das Gericht bei zutreffendem Verständnis ihres Vorbringens hätte ziehen müssen. An einer entsprechenden Darlegung fehlt es hinsichtlich sämtlicher erhobenen Rügen.

c) Sollte das Verwaltungsgericht dem Kläger das rechtliche Gehör dadurch versagt haben, dass es übersehen hat, dass Gegenstand des angefochtenen Bescheides der Beklagten auch seine Anerkennung als Asylberechtigter ist, ferner, dass er in Deutschland geboren ist, und schließlich, dass er nicht die Aufhebung von Nr. 3 des Bescheides vom 23. Februar 2004 beantragt hat, so würde dies die Zulassung der Berufung nicht rechtfertigen (§ 144 Abs. 4 VwGO in entspr. Anwendung). Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision nach § 144 Abs. 4 VwGO zurückzuweisen. Hinter dieser Vorschrift steht die verfahrensökonomische Einsicht, dass ein Verfahren nicht um eines Fehlers willen fortgeführt werden soll, der mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleiben wird (BVerwG, Urt. v. 26.2.2003, NVwZ 2003 S. 1129, 1130). Der Rechtsgedanke der Vorschrift ist daher nicht auf das Revisionsverfahren beschränkt. Bei einer Verletzung rechtlichen Gehörs ist § 144 Abs. 4 VwGO ausnahmsweise anwendbar, wenn die unter Verstoß gegen das rechtliche Gehör getroffene Feststellung zu einer einzelnen Tatsache nach der materiellrechtlichen Beurteilung des Revisionsgerichts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erheblich war (BVerwG, Urt. v. 26.2.2003, NVwZ 2003 S. 1129, 1130). Diese Grundsätze gelten in Verfahren auf Zulassung der Berufung entsprechend. Der Zulassungsantrag ist daher abzulehnen, wenn die im erstinstanzlichen Verfahren unberücksichtigt gebliebene Tatsache unter keinen Umständen den klageweise geltend gemachten Anspruch zu stützen vermag (OVG Münster, Beschl. v. 7.4.1997 - 25 A 1460/97.A -, Juris).

Das Verwaltungsgericht hätte in der Sache nicht anders entscheiden können, wenn es bedacht hätte, dass für den Kläger nicht nur das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 AuslG festgestellt war, sondern dass er überdies als Asylberechtigter anerkannt war. Denn nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind beide Rechtsgewährungen gleich zu behandeln: Nicht nur die Feststellung gemäß § 51 AuslG, sondern auch die Anerkennung als Asylberechtigter sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei nicht im Bundesgebiet geboren, sondern aus dem Kosovo eingereist, war für den Kläger bei der Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG sogar günstig. Auf in Deutschland geborene Ausländer, die seit ihrer Geburt ununterbrochen hier gelebt haben, ist die Vorschrift nämlich nicht anwendbar. Wenn sie von "Rückkehr" spricht, setzt sie die Einreise aus einem anderen Land voraus. Das gleiche folgt aus dem Erfordernis, der Ausländer müsse "frühere Verfolgungen" erlitten haben. Dass er diese nicht in Deutschland erlitten haben kann, versteht sich von selbst. Hätte das Verwaltungsgericht demgemäß über die Geburt des Klägers in Deutschland nicht geirrt, hätte es die Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG erst recht verneinen müssen.

Es ist auch nicht zu erkennen, dass das Verwaltungsgericht der Klage ganz oder teilweise hätte stattgeben können, wenn es gesehen hätte, dass der Kläger die Bestimmung Nr. 3 des Bescheides vom 23. Februar 2004 nicht angefochten hat. Die für ihn günstige Feststellung eines Abschiebungshindernisses hinsichtlich Serbien und Montenegro ist ungeachtet der vollständigen Abweisung seiner Klage bestehen geblieben. Nur wenn das Verwaltungsgericht die betreffende Bestimmung auf Grund der Klage aufgehoben hätte - was indes angesichts des fehlenden Rechtsschutzinteresses für ein derartiges Begehren kaum vorstellbar ist -, könnte eine nach § 144 Abs. 4 VwGO nicht heilbare Versagung des rechtlichen Gehörs angenommen werden.