VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 27.04.2005 - 3 E 1177/04.A - asyl.net: M6861
https://www.asyl.net/rsdb/M6861
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für Frau aus Syrien, die sich von ihrem Ehemann getrennt hat und mit einem anderen Mann zusammenlebt, wegen Gefahr der Misshandlung oder Tötung wegen Verletzung der "Familienehre".

 

Schlagwörter: Syrien, Kurden, Folgeantrag, Scheidung, Familienehre, Drei-Monats-Frist, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Interne Fluchtalternative
Normen: AsylVfG § 71; VwVfG § 51 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für Frau aus Syrien, die sich von ihrem Ehemann getrennt hat und mit einem anderen Mann zusammenlebt, wegen Gefahr der Misshandlung oder Tötung wegen Verletzung der "Familienehre".

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin zu 1) hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V. mit §§ 48, 49 VwVfG.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 21.03.2000 - 9 C 41.99 - und 07.09.1999 - 1 V 6.99 -) unterliegt die Entscheidung des Bundesamtes zu § 53 AuslG - und dementsprechend auch die zu § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG - nicht den eingeschränkten und strengen Wiederaufgreifensvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, da die einschränkende Verweisung des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur für den erneuten Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG gilt, der gerade nicht das Schutzersuchen nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG umfasst. Daher ist dem Bundesamt da-nach auch außerhalb des Rahmens des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nach § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG die Möglichkeit zum Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten eröffnet (Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Der Betroffene hat insoweit grundsätzlich einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung.

Im vorliegenden Fall ist das Ermessen des Bundesamtes jedoch dahingehend auf Null reduziert, dass der Klägerin zu 1) das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Syriens zuzuerkennen ist.

Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den betroffenen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Aus den in das Verfahren eingeführten Dokumenten ergibt sich, dass es in Fällen, in denen Frauen - wie die Klägerin - die Scheidung von ihrem Ehemann veranlasst und eine Beziehung zu einem anderen Mann aufgenommen haben, nach den traditionellen Ehrvorstellungen der arabischen Gesellschaft, die in einer so abgelegenen Region wie Kamishli, der Heimatregion der Klägerin, doch besonders lebendig sind, zu erheblichen körperlichen Misshandlungen und Tötungen durch den früheren Ehemann oder männliche Angehörige der eigenen Familie kommt, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Ausgehend davon ist das Gericht unter Berücksichtigung der von den Klägern vorgelegten Schreiben der Schwester und eines Onkels, der Klägerin zu 1) und insbesondere aufgrund des glaubhaften Vorbringens der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass sich diese Gefahr im Falle der Klägerin konkretisiert hat, ihr also bei einer Rückkehr nach Syrien die konkrete Gefahr droht, von ihren Angehörigen zur Rettung der Familienehre erheblich körperlich verletzt oder sogar getötet zu werden. Die Klägerin hätte auch nicht die Möglichkeit, sich derartigen Gefahren durch eine Wohnsitznahme in anderen Landesteilen, insbesondere in den Großstädten des Landes, zu entziehen, da auch dort Angehörige bzw. Bekannte der Familie wohnen, die ihre Verwandten in Kamishli von ihrer Ankunft benachrichtigen würden. Zudem ist vor dem Hintergrund, dass eine ebenfalls in ... wohnende syrisch-kurdische Familie engen Kontakt zu ihren Eltern in Syrien unterhält und diesen Informationen über die Kläger zukommen lässt, davon auszugehen, dass ihre Angehörigen unverzüglich davon Kenntnis erhalten würden, wenn die Kläger Deutschland verließen, und dementsprechend ihre Ankunft in Syrien überwachen würden. Hinreichenden staatlichen Schutz gegen derartige Übergriffe kann die Klägerin den beigezogenen Auskünften zufolge nicht erwarten.