OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 09.03.2005 - 2 A 115/03.A - asyl.net: M6882
https://www.asyl.net/rsdb/M6882
Leitsatz:

Keine landesweite Gruppenverfolgung von Tschetschenen, denen grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative in Russland offen steht; § 60 Abs. 7 AufenthG für Tschetschenen, der wegen fehlender familiärer und sozialer Verbindungen sowie wegen psychischer Erkrankung das Existenzminimum nicht sichern kann.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Gruppenverfolgung, Nachfluchtgründe, Interne Fluchtalternative, Freizügigkeit, Registrierung, Kontrollen, Exilpolitische Betätigung, Situation bei Rückkehr, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Existenzminimum, Alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Psychische Erkrankung, Krankheit, Abschiebungshindernis
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine landesweite Gruppenverfolgung von Tschetschenen, denen grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative in Russland offen steht; § 60 Abs. 7 AufenthG für Tschetschenen, der wegen fehlender familiärer und sozialer Verbindungen sowie wegen psychischer Erkrankung das Existenzminimum nicht sichern kann.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung ist unbegründet, soweit die Klage auf die Verpflichtung der Beklagten gerichtet ist, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Der Senat hat die Kriegsführung der russischen Seite im zweiten Tschetschenienkrieg in ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber der betroffenen tschetschenischen Zivilbevölkerung als Gruppenverfolgung bewertet (vgl. Urteil des Senats vom 23.03.2005 - 2 A 116/03.A).

Für den Kläger besteht indessen kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgungssituation in Tschetschenien, da er als unverfolgt ausgereister Tschetschene nicht zu verfolgungsbetroffenen Gruppe gehört.

Bei den beschriebenen Verfolgungsmaßnahmen der russischen Sicherheitskräfte handelt es sich nicht um eine regionale Gruppenverfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, da sie sich gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung nicht allein wegen ihrer Ethnie richtet und damit nicht potenziell die gesamte Gruppe der in der RF lebenden tschetschenischen Volkszugehörigen erfasst. Vielmehr richtet sie sich nur gegen die in Tschetschenien gebietsansässige Zivilbevölkerung, deren Verfolgung durch die russischen Sicherheitskräfte anknüpft an den Pauschalverdacht der Unterstützung der tschetschenischen Rebellen und ihrer separatistischen Ziele. Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte dienen der Zerschlagung der separatistischen Bestrebungen der Aufständischen. Betroffen von der Verfolgung ist daher von vornherein nur die in Tschetschenien nach dem ersten Tschetschenienkrieg allein noch verbliebene tschetschenische Bevölkerung, so dass die Verfolgungslage wegen des zusätzlichen Merkmals der Gebietsbezogenheit als eine sog. örtlich begrenzte Gruppenverfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu qualifizieren ist (BVerwG, U. v. 30.04.1996, a.a.O., und v. 09.09.1997, a.a.O.; ebenso OVG Schleswig, U. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 - S. 17).

Bei einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung sind diejenigen Angehörigen der religiösen oder ethnischen Gruppe, die mangels Gebietsansässigkeit nicht zu der gefährdeten Gruppe gehören, von vornherein nicht von der Verfolgung betroffen und ihnen ist als unverfolgt Ausgereisten die Rückkehr in die Heimat zuzumuten, wenn ihnen dort nach allgemeinem Maßstab nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (vgl. BVerwG, B. v. 08.03.2000 - 9 B 620/99 - juris -).

Einem unverfolgt ausgereisten Asylbewerber kommt bei einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung anders als bei einer regionalen Gruppenverfolgung ein objektiver Nachfluchtgrund generell nicht zugute, weil er nicht der verfolgungsbetroffenen Gruppe angehört (BVerwG, B. v. 23.08.1999 - 9 B 96/99 - juris - ).

Da der Kläger sich bei dem Einsetzen der örtliche begrenzten Gruppenverfolgung nicht mehr in Tschetschenien, sondern bereits in Deutschland aufhielt, kann er sich auf eine örtlich begrenzte Gruppenverfolgung in Tschetschenien als Nachfluchtgrund auch nicht berufen.

c) Daraus, dass Tschetschenen lediglich einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung unterliegen, folgt weiter, dass sich der unverfolgt ausgereiste Kläger wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit nur dann auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG berufen könnte, wenn ihm landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohte. Das ist jedoch nicht der Fall.

Zur gegenwärtigen Sicherheitslage von Tschetschenen, die wie der Kläger in Tschetschenien lebten, in der übrigen RF ist den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass sich der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands nach der Moskauer Geiselnahme 2002 im Musicaltheater signifikant erhöht hat. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen, bei denen einziges Kriterium die ethnische Zugehörigkeit sei. Personenkontrollen auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehl) seien verschärft worden. Die Terroranschläge im August 2004 (Absturz zweier Flugzeuge in Russland, Sprengstoffanschläge an einer Bushaltestelle und am Rigaer Bahnhof in Moskau) und die Geiselnahme in der Schule von Beslan in Nordossetien am 01.09.2004 haben diesen Druck noch weiter erhöht, zumal die Sicherheitsbehörden befürchten, dass weitere Selbstmordattentäter eingeschleust werden. Kaukasisch aussehende Personen stehen unter einer Art Generalverdacht, so dass verstärkte Kontrollmaßnahmen aller Art wie Ausweiskontrollen, Wohnungsdurchsuchungen und Abnehmen von Fingerabdrücken zu befürchten sind (vgl. AA, ad hoc-Bericht vom 13.12.2004).

Den dargestellten Kontrollmaßnahmen kommt ein asylerhebliches Gewicht indessen nicht zu. Weitergehende Übergriffe nach Durchführung von Kontrollmaßnahmen in einem Ausmaß, das nicht mehr nur von Einzelfällen gesprochen werden kann, werden nicht berichtet. Es ist daher unter Sicherheitsaspekten nach wie vor von einer verfolgungsfreien inländischen Fluchtalternative für tschetschenische Volkszugehörige im übrigen Gebiet der RF auszugehen.

b) Eine landesweite Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger kann auch nicht damit begründet werden, dass die nach der Verfassung für russische Staatsbürger in der Russischen Föderation bestehende Niederlassungsfreiheit (AA, ad hoc-Bericht vom 28.08.2001) und damit die freie Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in der Praxis durch Verwaltungsvorschriften sehr stark erschwert wird (AA, ad hoc-Bericht vom 13.12.2004).

Die Verweigerung der Registrierung eines zeitweiligen oder dauerhaften Aufenthalts insbesondere in den Gebieten der tschetschenischen Diaspora (westrussische Großstädte und südliches Russland, vgl. AA, ad hoc-Bericht vom 13.12.2004) vermag allerdings für sich genommen nicht schon die Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung der Tschetschenen zu begründen. Sie erfolgt nicht wegen der tschetschenischen Volkszugehörigkeit (so aber VG Karlsruhe, U. v. 10.03.2004 11 K 12230/03 - juris), sondern ist Folge der in der Russischen Föderation herrschenden schlechten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Es wird versucht, dem Zuwanderungsdruck in die wirtschaftlichen und sozialen Ballungszentren zu begegnen, die Verteilung der lokalen Ressourcen zu schützen und den Zugang bestimmter Personengruppen zu verhindern, um sich vor dem Zustrom von Flüchtlingen mit den daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen zu schützen. Im Zusammenhang mit den Anti-Terror-Präventionsmaßnahmen sind davon in der Praxis allerdings Personen aus dem Nordkaukasus und insbesondere Tschetschenen betroffen. Die Registrierungsvorschriften gelten aber für alle Staatsbürger ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit (vgl. AA, Auskunft vom 18.04.2000 an das VG Ansbach).

Es kann wohl auch nicht festgestellt werden, dass die Registrierung landesweit einheitlich restriktiv angewendet wird (UNHCR, Januar 2002, Nr. 42 u. 47). Auch wurde sie von einigen Regionen wieder abgeschafft aufgrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und in manchen Gebieten ist eine Registrierung wegen der dort herrschenden harten Lebensbedingungen auch nicht nötig (ai, Stellungnahme vom 12.01.2001 an das VG Ansbach).

Die Existenz eines Befehls Nr. 541 vom 17.09.1999 des damaligen russischen Innenministers, der im Zusammenhang mit den Bombenattentaten u. a. die Anweisung enthalten haben soll, "harte Lebens- und Arbeitsbedingungen für Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit auf dem Territorium der RF" einzuführen, "die polizeiliche Anmeldung der Tschetschenen in Moskau und in anderen Städten Russlands einzuschränken und nach Möglichkeit einzustellen" sowie "regelmäßige Kontrollen in Wohnstädten von Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit durchzuführen" (so der mitgeteilte Inhalt der IGFM-Stellungnahme vom 20.12.2000 an das VG Schleswig) lässt sich nicht verifizieren (ai, Stellungnahme vom 16.04.2004 an den BayVGH, UNHCR, Stellungnahme vom 29.10.2003 an den BayVGH). Dabei soll es sich vielmehr um eine Fälschung handeln.

Dem Kläger steht Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (unmittelbar) zu.

Aus den Erkenntnisquellen ergibt sich, dass die Existenzsicherung für tschetschenische Rückkehrer in der Russischen Föderation aufgrund administrativer Beschränkungen ganz erhebliche Probleme mit sich bringt. Voraussetzung für den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, zu sozialer Unterstützung, medizinischer Versorgung und zu den Bildungseinrichtungen ist, wie bereits erwähnt, die erfolgte Registrierung nach dem Föderationsgesetz Nr. 5242/1 (vgl. UNHCR, Auskunft vom 29.10.2003 an den BayVGH und AA, Auskunft vom 12.11.2003 an den BayVGH).

Eine Rückkehr in seine tschetschenische Heimat, wo der Kläger ohne weiteres registriert werden würde, ist ihm in Anbetracht der dort herrschenden Sicherheitslage nicht zumutbar (vgl. AA, ad hoc-Bericht vom 15.12.2004), ebensowenig eine Aufenthaltsnahme in Inguschetien, nachdem sich dort die Sicherheitslage für Tschetschenen gravierend verschlechtert hat und die Flüchtlingslager überdies geschlossen worden sind (vgl. AA, ad hoc-Bericht vom 13.12.2004, ai, Stellungnahme vom 16.04.2004 an den BayVGH und UNHCR, Stellungnahme vom 29.10.2003 an den BayVGH).

Auch nach Auffassung des Auswärtigen Amtes (ad hoc-Bericht vom 13.12.2004) können nichtregistrierte Tschetschenen allenfalls in der tschetschenischen Diaspora innerhalb Russlands untertauchen und dort überleben. Wie ihre Lebensverhältnisse seien, hänge insbesondere davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügten.

Der Kläger ist aufgrund seiner persönlichen Lebensumstände nicht in der Lage, die Probleme der sozialen Eingliederung zu bewältigen, die sich ihm als Familienvater bei Rückkehr in die Russische Föderation und illegalem Aufenthalt in der tschetschenischen Diaspora stellen würden. Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung nicht feststellen, dass der Kläger über familiäre oder soziale Verbindungen außerhalb Tschetscheniens verfügt, die ihm bei einer Eingliederung in die tschetschenische Diaspora behilflich sein könnten und die nach der Erkenntnislage unerläßlich sind, um illegal überleben zu können. Durch den Tod des früheren Mitglieds des Parlaments in Grosny noch aus Zeiten der Sowjetunion, das dem Kläger und später auch der Ehefrau des Klägers und seiner 1992 geborenen Tochter zur Ausreise aus Tschetschenien über Moskau verholfen und die Familie vorübergehend in der Gegend von Moskau untergebracht hatte, hat der Kläger seine Kontaktperson verloren. Sonstige soziale Verbindungen zur tschetschenischen Diaspora, auf die sich der Kläger bei Rückkehr in die Russische Föderation stützen könnte, besitzt er nicht. Die persönliche Situation des Klägers verschärft sich durch seine herabgesetzte psychische Belastbarkeit. Nach dem von ihm vorgelegten Attest des Dipl. Psychologen H. vom 28.02.2005 befindet sich der Kläger seit dem 30.04.2004 in regelmäßiger psychologischer Behandlung bei Refugio. Die Symptome bestünden u.a. in Schwindelgefühlen, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit und Angstgefühlen. Auslöser für diese psychischen Probleme seien traumatische Kriegs- und Verfolgungserlebnisse in seiner Heimat Tschetschenien gewesen.

Es kann nicht angenommen werden, dass der Kläger in seinem gegenwärtigen Zustand einer herabgesetzten psychischen Belastbarkeit und ohne soziale Unterstützung durch Bekannte oder Verwandte bei Rückkehr in die Russische Föderation die Möglichkeit findet, sich und seine ebenfalls ausreisepflichtigen engsten Angehörigen (Ehefrau und Tochter) mit dem für das Leben Notwendigsten zu versorgen. Nach allem sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG gegeben, so dass dem Kläger Abschiebungsschutz zuzusprechen war.