VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 30.06.2005 - 2 K 1611/04.A - asyl.net: M6902
https://www.asyl.net/rsdb/M6902
Leitsatz:

Kein Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG bei ehemaligem PKK-Funktionär, wenn keine Gefahr mehr von ihm ausgeht, weil er sich von seiner früheren terroristischen Tätigkeit losgesagt hat; trotz verbesserter Menschenrechtslage keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei.

 

Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Konventionsflüchtlinge, Terrorismus, PKK, Türkei, Kurden, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Änderung der Sachlage, Terrorismusbekämpfungsgesetz, Änderung der Rechtslage, Kämpfer (ehemalige), Menschenrechtslage, Reformen, Hinreichende Sicherheit, Folter, Funktionäre
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1; AufenthG § 60 Abs. 8 S. 2
Auszüge:

Kein Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG bei ehemaligem PKK-Funktionär, wenn keine Gefahr mehr von ihm ausgeht, weil er sich von seiner früheren terroristischen Tätigkeit losgesagt hat; trotz verbesserter Menschenrechtslage keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Soweit die Beklagte sich für den Widerruf auch auf § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG - jetzt § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG - stützt, liegt eine Änderung der Rechtslage vor. Denn § 51 Abs. 3 S. 2 AuslG ist erst durch Art. 11 Nr. 9 Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 09.01.2002 (BGBl. I S. 361) mit Wirkung vom 01.01.2002 eingefügt worden und damit nach der Anerkennung des Klägers am 17.05.2001 in Kraft getreten.

Allein der Umstand, dass der Kläger in der Vergangenheit eine führende Funktion in einer terroristischen Organisation eingenommen hat, führt aber noch nicht zum Asylausschluss nach § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG i.V.m. § 30 Abs. 4 AsylVfG. Denn der Asylausschluss nach § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG setzt voraus, dass von dem Ausländer weiterhin Gefahren ausgehen, wie sie sich in seinem früheren Verhalten manifestiert haben. Dafür sprechen regelmäßig frühere Aktivitäten für eine terroristische Vereinigung, es sei denn, der Ausländer hat sich glaubhaft und endgültig aus diesem Umfeld gelöst (OVG Koblenz, Urteil vom 06.12.2002 - 10 A 10089/02 in NVwZ-RR 2003, 596).

Dem schließt sich der Einzelrichter an. Da das Grundrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG durch einfaches Gesetz nicht eingeschränkt werden darf, kann durch § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG nicht das grundrechtlich gewährleistete Asylrecht beschränkt, sondern nur die immanenten Grenzen dieses Grundrechts aufgezeigt werden. Zu diesen immanenten Grenzen zählt, dass Asyl nicht beanspruchen kann, wer im Heimatland unternommene terroristische Aktivitäten oder deren Unterstützung von der Bundesrepublik Deutschland aus in den hier möglichen Formen fortzuführen trachtet (BVerfG, Beschluss vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 in NVwZ 1990, 453). Fehlt es an einer solchen Fortführung, kann das nach Art. 16 a Abs. 1 GG verbürgte Asylrecht nicht entfallen. In gleicher Weise ist es dem Gesetzgeber nicht erlaubt, trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1 GG Asyl nach Maßgabe des § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG auszuschließen, wenn die Verbrechensbegehung oder die Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderliefen, in der Vergangenheit lagen, der Ausländer sich aber von dem früheren Umfeld endgültig gelöst hat und von ihm keine weiteren Gefahren ausgehen. § 60 Abs. 8 S. 2 AufenthG ist verfassungskonform dahin auszulegen, dass er nur bei fortbestehenden Gefahren zum Ausschluss von Asyl und Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG führt.

Ein Widerruf der Asylanerkennung kommt auch nicht wegen Änderung der Verhältnisse in der Türkei seit der Anerkennung des Klägers im Mai 2001 in Betracht.

Die allgemeine Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei wirkt sich grundsätzlich auch im Falle des Klägers aus.

Ob vor dem geschilderten Hintergrund der veränderten Situation in der Türkei bei erstmaliger Entscheidung über den Asylantrag des Klägers die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit noch anzunehmen ist, kann zweifelhaft sein.

Entscheidend ist, dass im anhängigen Verfahren nicht auf den Prognosemaßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit abzustellen ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass nach bereits erfolgter Asylanerkennung der Widerrufstatbestand nur erfüllt ist, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (BVerwG, Urt. vom 24.11.1992 - 9 C 3/92 in Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1). Dieser herabgestufte Prognosemaßstab verlangt für eine Asylversagung, dass keine ernsthaften Zweifel an der Sicherheit des Asylbewerbers vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat vorhanden sein dürfen (BVerwG, Urt. vom 26.03.1985 - 9 C 107.84 in BVerwGE 71,175).

Solche ernsthaften Zweifel hat der Einzelrichter. Auch wenn die Menschenrechtslage sich allgemein verbessert hat und dem Auswärtigen Amt nunmehr seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrte Asylbewerber gefoltert oder misshandelt wurde (Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom 03.05.2005), bleiben Zweifel bestehen, ob nicht doch der Kläger aufgrund vorliegender Besonderheiten in seinem Fall Folterungen ausgesetzt sein wird. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2005 auch vor dem Hintergrund seiner familiären Situation glaubhaft berichtet, dass er mehrfach in der Türkei gefoltert worden war. Im Hinblick auf die gegenwärtige Situation bestätigt das Auswärtige Amt im jüngsten Lagebericht vom 03.05.2005, dass es der türkischen Regierung immer noch nicht gelungen ist, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden, auch wenn die Zahl der einschlägigen Fälle deutlich zurückgegangen ist und von einer systematischen Folter nicht die Rede sein kann. Das OVG Münster geht in seinem Urteil vom 26.05.2004 (8 A 3852/03.A - "Kaplan-Urteil") davon aus, dass in der Türkei psychische und physische Foltermethoden - bei Vernehmungen wegen politischer Straftaten eher als bei nicht politischen Strafttaten - weiterhin zur Erlangung von Geständnissen angewendet werden.