VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 01.04.2005 - unbekannt - asyl.net: M6909
https://www.asyl.net/rsdb/M6909
Leitsatz:

Asylanerkennung für HADEP-Funktionär trotz Freispruch vom Vorwurf der "separatistischen Propaganda", da weitere Übergriffe türkischer Sicherheitskräfte zu erwarten sind.

 

Schlagwörter: Türkei, HADEP, Kurden, Festnahme, Separatismus, Freispruch, Übergriffe, Menschenrechtsverletzungen, Reformen, DEHAP, Folter, Misshandlungen, Haft
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Asylanerkennung für HADEP-Funktionär trotz Freispruch vom Vorwurf der "separatistischen Propaganda", da weitere Übergriffe türkischer Sicherheitskräfte zu erwarten sind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter und auch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Das Gericht hat auf Grund des Vorbringens des Klägers die erforderliche Überzeugung erlangt, dass dieser aus der Türkei vor unmittelbar drohender staatlicher asylrelevanter Verfolgung ausgereist ist und im Falle seiner Rückkehr in die Türkei vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher wäre.

Nach den durch die im vorliegenden Verfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 4. März 2005 bestätigten Angaben des Klägers war dieser über Jahre hinweg sowohl auf lokaler als auch auf Provinzebene in führender Position für die am 13. März 2003 wegen angeblicher Verbindungen zur PKK/KADEK verbotene HADEP tätig. Nach dem weiteren Vorbringen des Klägers, an dessen Richtigkeit zu zweifeln sowohl nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindruck von der Person des Klägers als auch nach der Art und Weise des Vorbringens kein Anlass zu zweifeln besteht, wurde der Kläger in dieser Zeit von der Polizei vielfach in einer Weise drangsaliert, die ihn letztlich derart zermürbt hat, dass er nur noch die Möglichkeit der Ausreise aus der Türkei gesehen hat. Denn der Kläger wurde mit Blick auf sein politisches Engagement mindestens 30 mal - wenn auch immer nur für kurze Zeit - festgenommen, wobei er im Jahre 1999 auch geschlagen wurde. Desweiteren wurde der Kläger im Anschluss an eine Durchsuchung des Parteigebäudes der HADEP in Gaziantep am 7. März 2000 wegen separatistischer Propaganda gemäß Art. 8 des Anti-Terror-Gesetzes angeklagt. Wenn auch der Kläger am 25. März 2002 freigesprochen wurde, so zeigt dies doch, dass er auf Grund seiner Vorstandstätigkeit in der HADEP intensiv in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten ist. Ist dies aber so, so ist der Kläger als vorverfolgt anzusehen, wobei es keine Rolle spielt, dass der vg. Freispruch - ohne dass dem Kläger dies bekannt geworden wäre - noch kurz vor seiner Ausreise erfolgt ist.

Für diese Einschätzung ist ausschlaggebend, dass es in der Türkei bei der Umsetzung der eingeleiteten umfangreichen Reformen nach wie vor erhebliche Defizite gibt. In der Praxis ist dabei die türkische Justiz einer der neuralgischen Punkte bei der Implementierung der Reformen. Der hierfür erforderliche Mentalitätswandel hat bislang die Staatsanwaltschaften und Gerichte noch nicht vollständig erfasst. Insgesamt besteht unter türkischen Juristen die Ansicht, dass die Maßstäbe bei der Strafverfolgung innerhalb der Türkei immer noch ziemlich uneinheitlich und teilweise unberechenbar sind. Wenn auch die Gerichte sehr oft frei sprechen und somit den Staatsanwaltschaften Grenzen setzen, bestand und besteht der Eindruck, dass Ermittlungsverfahren teilweise gezielt als Sanktion eingesetzt wurden und werden, auch wenn eine Verurteilung jeweils unwahrscheinlich ist.

Die von dem Kläger geschilderten zahlreichen Übergriffe auf seine Person haben die Grenze asylerheblicher Übergriffe erreicht. Hierbei kommt es nicht darauf an, dass diese bei einer singulären Sichtweise für sich betrachtet überwiegend nicht die Grenze der Asylerheblichkeit erreicht haben mögen. Angesichts der Zahl der Übergriffe und deren durchaus beabsichtigter zermürbender Wirkung auf die Person des Klägers wurde diese Schwelle jedoch überschritten. Ausgehend von der humanitären Intention des Asylrechts war es dem Kläger daher nicht mehr zuzumuten, sich durch einen Verbleib in der Türkei diesen Übergriffen weiter auszusetzen, zumal keinerlei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass diese etwa mit dem erfolgten Freispruch durch das 2. Staatssicherheitsgericht Adana enden würden. Denn die Übergriffe der Sicherheitskräfte knüpften an die auf Grund der Funktionärstätigkeit für die HADEP in der Person des Kläger vermutete separatistische und damit staatsfeindliche Gesinnung an. Sie knüpften an die politischen Ziele dieser Partei und damit zugleich an die Gesinnung und politische Überzeugung des diese Ziele mittragenden Klägers an. Die erfolgten Übergriffe sind auch nicht als Maßnahmen zur Terrorismusabwehr zu rechtfertigen, da sie die Grenzen asylunerheblicher polizeilicher Ermittlungen auch nach türkischen Maßstäben überschritten haben und ihnen offensichtlich allein das Bestreben der Sicherheitskräfte zu Grunde lag, den Kläger zu schikanieren.

Schließlich bestand für den Kläger auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Westen der Türkei.

Der vorliegend getroffenen Entscheidung stehen schließlich auch nicht die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG NRW vom 8. April 2003 - 508-516.80/39550 - sowie das auf diese Auskunft verweisende Urteil des OVG NRW vom 14. Oktober 2003 - 15 A 459/98.A - entgegen. Zwar ist danach davon auszugehen, dass keine Fälle bekannt sind, in denen freigesprochene Personen trotz dieses Freispruches, etwa nach Rückführung oder Wiedereinreise in die Türkei, in asylerheblicher Weise behandelt wurden. Bei dem Kläger geht es aber nicht um den singulären Vorwurf einer Unterstützung einer verbotenen Partei bzw. Organisation, sondern vielmehr darum, dass die Sicherheitskräfte eine langjährig politisch in Führungsfunktionen aktive Person gewissermaßen in ihr Blickfeld genommen haben.