VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 14.07.2005 - 6 K 22/05.A - asyl.net: M6920
https://www.asyl.net/rsdb/M6920
Leitsatz:

Keine staatliche oder quasi-staatliche Verfolgungsmacht in Afghanistan; keine extreme allgemeine Gefährdung i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen schlechter Versorgungslage oder wegen Zugehörigkeit zu den Hazara.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Staatsbeherrschende Organisation, Regierung, quasi-staatliche Verfolgung, Warlords, Existenzminimum, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Hazara, Gebietsgewalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine staatliche oder quasi-staatliche Verfolgungsmacht in Afghanistan; keine extreme allgemeine Gefährdung i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen schlechter Versorgungslage oder wegen Zugehörigkeit zu den Hazara.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Dem Kläger steht kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu.

Nach Einschätzung des Gerichts übt die derzeitige Regierung mit Präsident Hamid Karsai an der Spitze keine für die Annahme einer politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderliche staatliche Gewalt in Afghanistan aus. Zwar wird Präsident Karsai von der internationalen Staatengemeinschaft gefördert; die völkerrechtliche Anerkennung ist jedoch nicht maßgebend. Der Gebietsherrschaft nach außen kann allenfalls indizielles Gewicht zukommen (BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000, 2 BvR 260/98 und 1353/98 - NVwZ 2000,1165= DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521).

Entscheidend ist jedoch, dass die Regierung Karsai zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder in Afghanistan noch in einem Teil Afghanistans ein Gewaltmonopol besitzt.

Sie ist nicht ansatzweise in der Lage, sich in den einzelnen Landesteilen gegenüber den sog. Warlords - auch Kriegsfürsten, Lokalherrscher, Stammesfürsten etc. genannt - durchzusetzen.

Die Annahme einer durch die Zentralregierung ausgeübten Staatsgewalt ergibt sich auch nicht dadurch, dass in der Regierung etliche der Lokalfürsten Kabinettsmitglieder sind bzw. dass mittlerweile nahezu allen lokalen Herrschern von Präsident Karsai irgendwelche offiziellen Posten übertragen worden und sie auf diese Weise in den Staatsapparat eingebunden sind.

Nach Einschätzung des Gerichts liegen die Voraussetzungen nicht vor, um Kabul als ein "Kernterritorium" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (21 BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521) zu bezeichnen. So erscheint es schon äußerst fraglich, ob staatliche Macht, die sich auf den Raum Kabul und seine nähere Umgebung beschränkt, von ihrer räumlichen Ausdehnung her ausreicht, von einer staatlichen Herrschaftsmacht in einem Kernterritorium zu sprechen. Doch selbst in der Hauptstadt hat Präsident Karsai mit seiner Regierung bislang kein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung errichten können.

Schließlich kann auch nicht in den einzelnen Landesteilen außerhalb von Kabul eine staatliche bzw. quasi-staatliche Herrschaftsmacht durch einzelne Lokalherrscher bezogen auf ein begrenztes Territorium angenommen werden.

Nach diesen Grundsätzen führt allein die allgemeine schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in Afghanistan nicht zur Annahme eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Die Gefahren für die dortige Bevölkerung haben sich hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen nicht in einem Maße verdichtet, dass allgemein für die gesamte Bevölkerung von einer extremen Gefahrenlage auszugehen wäre. Die Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit ist nicht für alle derart hoch, dass die Frage des Abschiebungsschutzes in Abweichung von §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60 a AufenthG (§§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG a. F.) verfassungskonform nur nach Satz 1 der Vorschrift zu bewältigen wäre.

Auch hinsichtlich der sonstigen Lebensbedingungen kann keine der gesamten Bevölkerung drohende Existenzgefährdung angenommen werden.

Trotzdem ist eine das Überleben breiter Bevölkerungskreise bedrohende Unterversorgung mit den lebensnotwendigen Gütern trotz immer wieder auftretender Engpässe nicht zu erwarten. Durch die traditionell stark ausgeprägte Einbindung des Einzelnen in die Familien- und Stammesstrukturen, die in Afghanistan quasi das soziale Netz darstellen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22. April 2004), sowie den Einsatz von ausländischen Hilfsorganisationen konnte die Versorgung mit dem zum Überleben Notwendigsten bisher selbst in den Wintermonaten einigermaßen gewährleistet werden.