VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 29.06.2005 - 6 A 171/05 - asyl.net: M6947
https://www.asyl.net/rsdb/M6947
Leitsatz:

1. Eine in der ständigen ausländerbehördlichen Praxis umgesetzte Erlasslage, nach der für eine ethnische Minderheit (hier: Roma aus dem Kosovo) in Abschiebungsstopp besteht, begründet in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs. 1 GG ein rechtliches Abschiebungshindernis.

2. Liegt ein rechtliches Abschiebungshindernis in diesem Sinne vor, weil wegen der schwierigen Verhältnisse im Heimatstaat des Ausländers aus der Sicht der dortigen Territorialverwaltung und der zuständigen Länderministerien in der Bundesrepublik Deutschland eine zwangsweise Rückführung unterbleiben soll, ist es auch dem hiervon betroffenen Minderheitszugehörigen nicht zuzumuten, freiwillig in das Heimatland zurückzukehren und sich diesen schwierigen Lebensbedingungen auszusetzen.

3. Aussagekräftige Anhaltspunkte, dass in absehbarer Zeit mit einem Wegfall der Ausreisehindernisse zu rechnen ist, bestehen nicht.

 

Schlagwörter: D (A), Vorübergehende Gründe, Humanitäre Gründe, Ausreisehindernis, Zumutbarkeit, Ausreise, Serbien und Montenegro, Kosovo, Abschiebungsstopp, Erlass, Situation bei Rückkehr, Roma, Abschiebungshindernis
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

1. Eine in der ständigen ausländerbehördlichen Praxis umgesetzte Erlasslage, nach der für eine ethnische Minderheit (hier: Roma aus dem Kosovo) in Abschiebungsstopp besteht, begründet in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs. 1 GG ein rechtliches Abschiebungshindernis.

2. Liegt ein rechtliches Abschiebungshindernis in diesem Sinne vor, weil wegen der schwierigen Verhältnisse im Heimatstaat des Ausländers aus der Sicht der dortigen Territorialverwaltung und der zuständigen Länderministerien in der Bundesrepublik Deutschland eine zwangsweise Rückführung unterbleiben soll, ist es auch dem hiervon betroffenen Minderheitszugehörigen nicht zuzumuten, freiwillig in das Heimatland zurückzukehren und sich diesen schwierigen Lebensbedingungen auszusetzen.

3. Aussagekräftige Anhaltspunkte, dass in absehbarer Zeit mit einem Wegfall der Ausreisehindernisse zu rechnen ist, bestehen nicht.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben. Eine vorübergehende weitere Anwesenheit der Kläger im Bundesgebiet ist weder wegen erheblicher öffentlicher Interessen noch aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen erforderlich. Insbesondere liegen keine besonderen Umstände des Einzelfalles vor, auf Grund derer das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland für die Kläger eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Grundsätzlich stellen weder die allgemeine Lage in dem Heimatland, der jeder nach dorthin Zurückkehrende ausgesetzt ist, noch der langjährige Aufenthalt in Deutschland, die damit verbundene Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse und eine Entfremdung von dem Heimatland eine Sondersituation im Sinne des § 25 Abs. 4 AufenthG dar. Auch wenn eine Rückkehr häufig mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, teilen die Kläger diese Umstände mit einer Vielzahl von ausreisepflichtigen Landsleuten; die Sondersituation einer außergewöhnlichen Härte, die die Kläger deutlich von der Lage anderer Landsleute unterscheiden müsste, liegt hier nicht vor (vgl . hierzu: VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 09.02.2005 - 11 S 1099/04 - <juris>, VG Stuttgart, Urt. vom 02.03.2005 - 12 K 5468/03 - <juris>).

Schließlich kommt auch die Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nicht in Betracht.

Vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern, auch solchen, die sich aufgrund einer Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich nicht im Bundesgebiet aufhalten dürfen, kann nach dieser Vorschrift eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ihre Ausreise unmöglich ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn die freiwillige Ausreise und die zwangsweise Rückführung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich sind (im Ergebnis ebenso VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 06.04.2005 - 11 S 2779/04 -). Für diese Auslegung spricht die in den Gesetzgebungsmaterialen zum Ausdruck gekommene Regelungsabsicht des Gesetzgebers, der zum Begriff der Ausreise nicht nur die freiwillige Ausreise, sondern ausdrücklich auch die zwangsweise Rückführung (Abschiebung) zählen wollte.

Rechtliche Gründe, derentwegen dem betroffenen Ausländer die freiwillige Ausreise "unmöglich" ist, können sich beispielsweise aus einem Verbot der Grenzüberschreitung ergeben, wie es etwa in § 46 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 10 Abs. 1 und 2 PassG formuliert ist. Die Ausreise ist außerdem rechtlich unmöglich, wenn der zwangsweisen Rückführung rechtliche Hindernisse entgegenstehen, die sich aus den rechtlichen Verhältnissen und Beziehungen zwischen dem einzelnen Ausländer und der Bundesrepublik Deutschland ergeben (vgl . dazu Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, § 55 AuslG, Rn. 18 m. w. Nw.). Neben den ausdrücklichen Abschiebungshindernissen, die sich aufgrund der Asylanerkennung oder aus einer Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG ergeben und deren aufenthaltsrechtliche Folgen der Gesetzgeber weitgehend speziell in § 25 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG geregelt hat, sind hier insbesondere die Grundrechte in den Blick zu nehmen (vgl . BT-Drucksache 15/420, S. 80). Eine Abschiebung ist danach beispielsweise rechtlich unmöglich, wenn im Bundesgebiet Angehörige des Ausländers leben und seine Trennung von diesen Personen unzulässig in die Grundrechte aus Art. 6 GG eingreifen würde oder wenn sich durch die Ausreise als solche eine Erkrankung des Ausländers derart verschlimmern würde, dass seine Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt wären.

Der Begriff der tatsächlichen Gründe, die zur Unmöglichkeit der Ausreise führen können, ist nicht auf objektive faktische Hindernisse beschränkt, sondern umfasst darüber hinaus auch sog. subjektive Gründe. Dies ergibt sich bereits aus § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG. Die dort genannten Verschuldenselemente knüpfen ersichtlich an die Möglichkeit der Zurechnung zu dem betroffenen Ausländer an und setzen einen entsprechend weit gefassten Begriff der Unmöglichkeit (der Ausreise) voraus. Eine subjektive (tatsächliche) Unmöglichkeit (Unvermögen) in diesem Sinne ist auch gegeben, wenn es dem Ausländer unzumutbar ist, in sein Heimatland zurückzukehren (ebenso wohl VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 06.04.2005 - 11 S 2779/04 - und VG Hannover, Urt. vom 02.03.2005 - 10 A 1020/04 -; a. A. VG Oldenburg, Urt. vom 11.05.2005 - 11 A 2574/03 -; VG Osnabrück, Urt. vom 05.04.2005 - 5 A 595/04 -). In der Gesetzesbegründung ist ausdrücklich hervorgehoben worden, dass bei der Frage, ob eine Ausreisemöglichkeit bestehe, auch die subjektive Möglichkeit und damit die Zumutbarkeit der Ausreise zu prüfen sei (BT-Drucksache 15/420, S. 80). Ziel des Gesetzgebers war es, durch die Regelungen in § 25 Abs. 5 AufenthG sicherzustellen, dass die Praxis der "Kettenduldungen" beendet und der unter dem Ausländergesetz verbreiteten Praxis der Ausländerbehörden entgegengewirkt wird, Ausländern über einen langen Zeitraum zeitlich nur beschränkt gültige Duldungen als Rechtsgrundlage für den Aufenthalt im Bundesgebiet zu erteilen. Diese Verfahrensweise hatte zur Folge, dass die betroffenen Ausländergruppen trotz lang andauernden, zum Teil jahrelangen Aufenthalts im Bundesgebiet und fehlender Aussicht auf den Wegfall der Abschiebungshindernisse nicht in eine gefestigte Aufenthaltsposition kommen konnten.

Das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel ließe sich nicht erreichen, wenn die Unmöglichkeit der Ausreise allein nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen wäre. Für die zahlreichen Fälle, in denen die Abschiebung objektiv unmöglich, die freiwillige Ausreise jedoch unzumutbar ist, bliebe es dann bei der Erteilung einer Duldung (s. § 60a Abs. 2 AufenthG). Damit hätte sich im Vergleich zur Rechtslage nach § 30 Abs. 3 und 4 AuslG, die der Gesetzgeber mit Blick auf die Praxis der "Kettenduldungen" insoweit korrigieren wollte, nichts geändert. Nach diesen Vorschriften des Ausländergesetzes schied die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bereits dann aus, wenn die Abschiebungs- bzw. Ausreisehindernisse von dem Ausländer zu vertreten waren; dafür genügte es, dass die freiwillige Ausreise objektiv möglich war. Dies führte dazu, dass die Ausländerbehörden in einer Vielzahl solcher Fälle - insbesondere für Angehörige der ethnischen Minderheiten aus dem Kosovo - bei gleichwohl verweigerter freiwilliger Ausreise "Kettenduldungen" zu erteilen hatten.

Unzumutbar und damit subjektiv unmöglich ist die freiwillige Ausreise dem Ausländer, wenn sein privates Interesse an einem Verbleiben im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt. Liegt ein objektives rechtliches Abschiebungshindernis vor, so ist grundsätzlich auch von der Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise auszugehen. Schon mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip, die daraus resultierende Bindung der Behörden an Gesetz und Recht sowie - im Falle eines grundrechtlich begründeten Abschiebungshindernisses - die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt besteht in diesen Fällen in aller Regel kein überwiegendes öffentliches Interesse der Ausländerbehörde an einer Ausreise des Ausländers. Das Interesse des Ausländers an einem Verbleiben im Bundesgebiet ist in einem solchen Fall rechtlich geschützt. Die Behörden dürfen von ihm nicht verlangen, auf seine Rechtsposition zu verzichten; selbst wenn im konkreten Fall lediglich Grundrechte betroffen sind, auf deren Ausübung verzichtet werden darf, kann nur dann wirksam auf eine Rechtsposition verzichtet werden, wenn dies freiwillig geschieht (vgl . Stelkens/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 53 Rn 17f.; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl., Vorbem. vor Art. 1 Rn. 36). Damit wird die der Regelung in § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zu Grunde liegende Aufgliederung des Ausreisebegriffs in die zwangsweise Rückführung und die freiwillige Ausreise nicht gegenstandslos. In den Fällen, in denen eine Abschiebung tatsächlich unmöglich ist, kann dem Ausländer die freiwillige Ausreise weiterhin zumutbar sein. Ist die Abschiebung beispielsweise unmöglich, weil der Ausländer die Mitwirkung an der Beschaffung des für die Rückführung notwendigen Passpapiers verweigert hat, so ist die Aufenthaltserlaubnis wegen zumutbarer freiwilliger Ausreise gleichwohl nicht zu erteilen, wenn der Ausländer ohne besondere Schwierigkeiten auf dem Landweg in sein Heimatland zurückkehren kann.

Hiernach geht die Kammer in Anbetracht der derzeitigen Erlasslage für die Personengruppe der Roma aus dem Kosovo sowohl von der rechtlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung als auch von der Unzumutbarkeit einer freiwilligen Rückkehr nach dorthin aus (a. A. im Ergebnis VG Hannover, a. a. O.).

Mit den einschlägigen Erlassen, in denen ein Abschiebungsstopp für diese Personengruppe angeordnet worden ist, ist eine Verwaltungspraxis geschaffen worden, die in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG ein rechtliches Abschiebungshindernis begründet.

Darüber hinaus wird mit diesen Erlassen dem Umstand Rechnung getragen, dass die UNMIK wegen der Auswirkungen, die die Vertreibung ethnischer Minderheiten im Kosovo hatte, eine Rückführung der Roma - von wenigen Ausnahmen straffällig gewordener Personen abgesehen - (weiterhin) ablehnt. Wegen der nach den Beobachtungen der UNMIK fortbestehenden Schutzbedürftigkeit dieses Personenkreises und in Anbetracht der erheblichen Engpässe bei der Aufnahmekapazität soll eine Rückführung unterbleiben, bis sich die diesbezügliche Lage im Kosovo weiter entschärft hat. Jedenfalls nachdem sich die Länder im Ergebnis der Einschätzung der UNMIK angeschlossen haben, ist es auch den im Bundesgebiet lebenden vollziehbar ausreisepflichtigen Roma nicht zuzumuten, sich freiwillig den Verhältnissen auszusetzen, die von der Territorialverwaltung im Kosovo und von den zuständigen Länderministerien in der Bundesrepublik Deutschland für derart problematisch angesehen werden, dass eine zwangsweise Rückführung dieses Personenkreises ausgesetzt wird.

§ 25 Abs. 5 AufenthG setzt ferner voraus, dass mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit (vgl. hierzu: VG Göttingen, Urt. vom 11.02.2005 - 2 A 255/03 -) nicht zu rechnen ist. Dies ist hier der Fall. Für die Annahme, dass sich die Einschätzung der UNMIK zur Rückkehrmöglichkeit aller Roma aus dem Kosovo und damit die Erlasslage in absehbarer Zeit ändern wird, sind genügend aussagekräftige Anhaltspunkte nicht zu erkennen. Dafür genügt nicht, dass die Innenministerkonferenz beabsichtigt, die Rückführungen in das Kosovo zu forcieren. Hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die UNMIK dem folgen wird und die Rückführungen damit in einem absehbaren Zeitraum wieder aufgenommen werden können, sind gegenwärtig nicht ersichtlich.