VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 28.04.2005 - 5a K 2728/98.A - asyl.net: M6980
https://www.asyl.net/rsdb/M6980
Leitsatz:

Keine Staatsgewalt der Regierung Karsai, auch nicht in Kabul; nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan zwischen 1992 und 2001; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter nichtstaatlicher Verfolgung.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, quasi-staatliche Verfolgung, Gebietsgewalt, Regierung, Warlords, Kabul, nichtstaatliche Verfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Mudjaheddin, Taliban, Gruppenverfolgung, hinreichende Sicherheit, Verfolgungszusammenhang
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine Staatsgewalt der Regierung Karsai, auch nicht in Kabul; nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan zwischen 1992 und 2001; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter nichtstaatlicher Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16 a Grundgesetz (GG).

Nach Einschätzung des Gerichts übt aber auch die derzeitige Regierung mit Präsident Hamid Karsai an der Spitze keine für die Annahme einer politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 a GG erforderliche staatliche Gewalt in Afghanistan aus.

Die Annahme einer durch die Zentralregierung ausgeübten Staatsgewalt ergibt sich auch nicht dadurch, dass in der Regierung etliche der Lokalfürsten Kabinettsmitglieder sind bzw. dass mittlerweile nahezu allen lokalen Herrschern - wie z.B. dem oben geschilderten Ustad Ata - von Präsident Karsai irgendwelche offiziellen Posten übertragen worden und sie auf diese Weise in den Staatsapparat eingebunden sind. Zu diesem Schritt sah sich Präsident Karsai auf Grund der Macht des Faktischen gezwungen, um sein Gesicht zu wahren und zumindest der internationalen Staatengemeinschaft das Bild eines einheitlichen afghanischen Staates zu vermitteln. Trotz ihrer Mitarbeit im Kabinett - sei es direkt oder indirekt mittels ihnen ergebenen nahestehenden Persönlichkeiten - stützen die Lokalfürsten Präsident Karsai nicht in seinem Bemühen um den Aufbau einer Staatsgewalt im gesamten Land. Vielmehr gebrauchen und missbrauchen sie ihre Mitarbeit in der Zentralregierung zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen in ihren jeweiligen Territorien.

Nach Einschätzung des Gerichts liegen die Voraussetzungen nicht vor, um Kabul als ein "Kernterritorium" im Sinne des BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 = DVBI 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521, zu bezeichnen. So erscheint es schon äußerst fraglich, ob staatliche Macht, die sich auf den Raum Kabul und seine nähere Umgebung beschränkt, von ihrer räumlichen Ausdehnung her ausreicht, von einer staatlichen Herrschaftsmacht in einem Kernterritorium zu sprechen. Doch selbst in der Hauptstadt hat Präsident Karsai mit seiner Regierung bislang kein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung errichten können.

Die Klage ist dagegen begründet, soweit die Kläger die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG begehren.

Die Kläger sind im Jahre 1997 vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist. Die Verfolgung ergab sich aus ihrer Zugehörigkeit zur Religions- und Volksgruppe der Hindus, so dass es auf die möglicherweise ebenfalls vorliegende individuelle Vorverfolgung des Klägers nicht mehr ankommt. Hindus wurden in Afghanistan nach dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 von den verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen und anschließend - nach der Machtergreifung durch die Taliban - von diesen bis zum Ende ihrer Herrschaft Ende 2001 als religiöse und insbesondere als ethnische Minderheit verfolgt.

Gegen eine Verfolgung der Hindus spricht auch nicht die Einschätzung, dass im Jahr 2001 religiös begründete Repressionen gegen Hindus nicht bekannt geworden seien oder dass es keine verlässliche Grundlage für die Erwägung gebe, die Taliban verfolgten das Ziel der religiösen Säuberung des Landes von den Hindus (so schon OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 1998 - 20 A 7317/95.A - m.w.N.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09. Mai 2001).

Dabei darf nicht übersehen werden, dass zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Hindus mehr in Afghanistan lebten und die wenigen noch zurückgebliebenen Hindus sich nicht zu erkennen gaben. Wenn jedoch keine Hindus mehr vorhanden sind, bedarf es auch nicht mehr des Ziels einer religiösen Säuberung des Landes von den Hindus, weil dieses Ziel schon lange vorher - zum großen Teil schon vor der Machtergreifung durch die Taliban - erreicht war.

Auch wenn das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten immer wieder betonte, dass eine Verfolgung der Hindus in Afghanistan aus religiösen Gründen nicht stattgefunden habe (vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 09. Mai 2001 und vom 30. September 1997), so ist - neben der diplomatischen Zurückhaltung, von der derartige Berichte im Allgemeinen geprägt sind - zu berücksichtigen, dass die Hindus auch nicht vornehmlich aus religiösen Gründen einer Verfolgung ausgesetzt waren, sondern aus ethnischen und politischen. Dieser Aspekt findet in den Auskünften des Auswärtigen Amtes jedoch keine Erwähnung.

Sind die Kläger vorverfolgt ausgereist, so ist ihnen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren, wenn sie im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (sog. herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Nach der gegenwärtigen Auskunftslage kann für Hindus in Afghanistan keine Sicherheitsgarantie abgegeben werden.

Allerdings führt eine situationsbedingte Vorverfolgung nur bei Gefahr der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung zur Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs (vgl. BVerwG, Urteil vom 08. Februar 1983 - 9 C 218.81 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 43).

Dies ist nach der Rechtsprechung des BVerwG dann anzunehmen, wenn bei einer am Gedanken der Zumutbarkeit der Rückkehr ausgerichteten wertenden Betrachtung ein innerer Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und der mit dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt bestünde, dass bei Rückkehr mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung zu rechnen wäre oder nach den gesamten Umständen typischerweise das erhöhte Risiko der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung bestünde (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97).

Ein derartiger innerer Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung durch die Mudschaheddin-Gruppierungen und später durch die Taliban und zu befürchtender Verfolgung durch die derzeitigen Machthaber ist nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall anzunehmen. Denn die Ursache für die Verfolgung ist in beiden Fällen die gleiche: die Triebfeder ist für den Vorverfolger wie den potentiellen Verfolger mithin die gleiche, nämlich die unüberwindliche Feindschaft zu den verhassten und aus ihrer Sicht gottlosen Hindus.