VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 27.04.2005 - 1 A 386/03 - asyl.net: M7025
https://www.asyl.net/rsdb/M7025
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Familie, Clans, Erlass, Abschiebungsstopp, Allgemeine Gefahr, Zwangsheirat, Heiratsverweigerung, Familienehre, Mord, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Sippenhaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

3. Im Fall der Kläger besteht aber in Bezug auf Afghanistan ein individuelles Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Hinsichtlich Afghanistan besteht in Niedersachsen zwar ein auf dieser Grundlage ergangener Abschiebestopp (vgl. Runderlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport v. 27. Dezember 2004). Dieser Abschiebestopperlass steht im Fall des Klägers der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Denn der Fall der Kläger gehört nicht zum Regelungs- und Anwendungsbereich dieses Erlasses. Hierdurch werden nur allgemeine Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfasst. Um derartige allgemeine Gefahren geht es im Fall der Kläger jedoch nicht. Der Einzelrichter ist aufgrund des Eindruckes, den die Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen haben, davon überzeugt, dass ihr Vortrag glaubhaft ist und daher zutrifft. Hiernach trachten die Cousins des Klägers zu 1. den Klägern nach dem Leben, weil diese sich weigern, die inzwischen 14-jährige Klägerin zu 3. mit einem ihrer Cousins zwangsweise zu verheiraten. Dieser Cousin ist General in der afghanischen Armee und überdies persönlicher Sekretär von Fahim. Auch wenn dieser inzwischen nicht mehr afghanischer Verteidigungsminister ist und zurzeit wohl auch nicht die Position eines obersten Befehlshabers der Sicherheitskräfte in Afghanistan innehat, sondern lediglich den Ehrentitel des "höchsten militärischen Würdenträgers des Landes" ohne Aufgabenbereich (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 2.1.2005) trägt, verfügen er und damit auch die Cousins des Klägers zu 1. zweifellos noch über erheblichen Einfluss. Daher besteht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die erhebliche und konkrete Gefahr, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan abschiebungsschutzrelevante Verfolgungshandlungen zu gegenwärtigen haben werden. Im Gegensatz zu § 60 Abs. 1 AufenthG muss es sich im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch nicht um eine politische Verfolgung handeln. Ausreichend sind auch rein kriminelle Verfolgungshandlungen Dritter oder - wie hier - die erhebliche konkrete Gefahr der Ermordung durch Familienangehörige wegen Heiratsverweigerung - sog. Ehrenmorde (Nds. OVG, Beschl. v. 4.2.2005 - 11 LA 17/05 -). Nach der Erkenntnislage und dem auch insoweit glaubhaften Vortrag der Kläger sind die afghanischen Sicherheitsbehörden aufgrund des derzeit noch im Aufbau befindlichen desolaten Polizei- und Justizwesens aber weder willens noch in der Lage, ihnen einen ausreichenden Schutz gegen diese Gefährdungslage zu gewähren. Angesichts der in Afghanistan herrschenden Sippenhaft unterliegen alle Kläger der dargelegten Gefährdungslage. Überdies besteht mit zunehmendem Alter die Gefahr der zwangsweise durchgesetzten Eheschließung und Entführung auch für die Klägerinnen zu 4. und 5.