OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.07.2005 - 8 A 780/04.A - asyl.net: M7055
https://www.asyl.net/rsdb/M7055
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Kalifatsstaat, Drei-Monats-Frist, Presse, Folter, Rechtsschutz, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Unterzeichnerstaat, Situation bei Rückkehr, Foltergefahr, menschenrechtswidrige Behandlung, EGMR, Unterzeichnerstaat, Zuwanderungsgesetz, Beurteilungszeitpunkt, Entscheidungszeitpunkt, Rückwirkung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 2; EMRK Art. 3; AsylVfG § 77 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

1. Nach § 28 Abs. 2 AsylVfG kann die Feststellung, dass die in § 60 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Gefahren vorliegen, in einem Folgeverfahren in der Regel nicht getroffen werden, wenn der Ausländer nach Rücknahme der unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände im Sinne des § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des früheren Asylantrags entstanden sind.

a) Der nach Art. 15 Abs. 3 ZuwandG am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 28 Abs. 2 AsylVfG ist im vorliegenden Verfahren anwendbar. Denn gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist in asylverfahrensrechtlichen Streitigkeiten die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Eine Übergangsregelung, die hinsichtlich des § 28 Abs. 2 AsylVfG Abweichendes regelt, enthält das Asylverfahrensgesetz nicht; dessen § 87 b bezieht sich nur auf die Änderung des § 6 AsylVfG. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gilt für alle Streitigkeiten aufgrund dieses Gesetzes, womit das AsylVfG 1992 mit nachfolgenden Änderungen gemeint ist. Dazu zählt auch das Asylverfahrensgesetz in der Fassung, die es durch das Zuwanderungsgesetz erhalten hat. Das Zuwanderungsgesetz enthält zwar einige gewichtige Neuregelungen des Asylverfahrensrechts; anders als bei dem Übergang vom AsylVfG 1982 zum AsylVfG 1992 (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 11. November 1993 - 9 C 21.93 -, NVwZ 1994, 177), versteht sich das jetzt geltende Asylverfahrensgesetz aber nicht als "neues" Gesetz. Daher ist das Asylverfahrensgesetz in der nunmehr geltenden Fassung zugrunde zu legen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 - 1 C 29.03 -, juris (zur Anwendbarkeit des § 77 Abs. 1 AsylVfG auf Anfechtungsklagen)).

Durchgreifende Bedenken gegen die auf § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG beruhende Anwendbarkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG n.F. bestehen nicht. Zwar kann es in Einzelfällen hart erscheinen, einem Schutzsuchenden, der bereits vor längerer Zeit, als die Einführung des § 28 Abs. 2 AsylVfG noch nicht absehbar war, Nachfluchtgründe geschaffen hat, nunmehr den begehrten Schutz vorzuenthalten. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nimmt aber bewusst in Kauf, dass Rechtsänderungen zu Lasten des Schutzsuchenden Anwendung finden; die Norm dient nicht der Einzelfallgerechtigkeit (BVerwG, Beschluss vom 26. Februar 1997 - 1 B 5.97 -, Buchholz 402.240 § 45 AuslG Nr. 8).

b) § 28 Abs. 2 AsylVfG steht im vorliegenden Fall der Verpflichtung des Bundesamtes, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, entgegen.

aa) Der Wortlaut der Regelung mag zwar auf den ersten Blick nicht eindeutig sein, da der in Bezug genommene Absatz 1 mehrere Fälle betrifft, nämlich sowohl die - entsprechend dem gesetzlichen Regelfall - unbeachtlichen, als auch die ausnahmsweise beachtlichen Nachfluchtgründe, die als Fortsetzung einer bereits im Heimatland innegehabten und erkennbar betätigten festen Überzeugung erscheinen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 28 Rn. 47).

Der Sinn der Regelung ist gleichwohl mit Blick auf ihre gesetzessystematische Einordnung als Abs. 2 des § 28 AsylVfG und die Begründung, die die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren angeführt hat, eindeutig, ohne dass es eines Rückgriffs auf die Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004, Amtsblatt Nr. L 304, vom 30. September 2004, S. 12 ff., bedarf, nach deren Art. 5 Abs. 3 die Mitgliedstaaten die Flüchtlingsanerkennung bei selbstgeschaffenen Nachfluchtgründen ausschließen können (so aber VG Lüneburg, Urteil vom 11. Mai 2005 - 1 A 397/01 -, juris).

§ 28 Abs. 1 AsylVfG übernimmt - deklaratorisch - die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Asylrelevanz von Nachfluchtgründen in das einfache Gesetzesrecht. Danach setzt das Asylgrundrecht von seinem Tatbestand her grundsätzlich den kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Eine Erstreckung auf Nachfluchttatbestände kann nur insoweit in Frage kommen, als sie nach dem Sinn und Zweck der Asylverbürgung gefordert ist. Bei subjektiven Nachfluchttatbeständen, die der Asylbewerber nach Verlassen des Heimatstaates aus eigenem Entschluss geschaffen hat, kann eine Asylberechtigung in aller Regel nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sie sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellen (BVerfG, Beschluss vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51).

An diese Unterscheidung zwischen regelmäßig unbeachtlichen und ausnahmsweise beachtlichen subjektiven Nachfluchtgründen - objektive Nachfluchtgründe sind von § 28 Abs. 1 AsylVfG von vornherein nicht erfasst - knüpft § 28 Abs. 2 AsylVfG ersichtlich an und übernimmt die insoweit entwickelten Grundsätze und Abgrenzungskriterien für die Fälle, in denen über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in einem Folgeverfahren entschieden werden soll. Das bedeutet: Nach § 28 Abs. 2 AsylVfG soll dann, wenn nach Abschluss des ersten Asylverfahrens vom Asylbewerber aus eigenem Entschluss geschaffene Verfolgungsgründe mangels Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht in der Regel nicht zur Asylgewährung führen können, auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der Regel ausgeschlossen sein. Eine Ausnahme gilt - hier wie dort - wenn der Entschluss einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 2. März 2005 - 4 A 38/03 -, Asylmagazin 6/2005, S. 37 f.; Funke- Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 28 Rn. 48).

Dieses Verständnis entspricht dem Willen des Gesetzgebers. In der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 15/420, S. 110) heißt es insoweit:

"Nach der bisherigen Fassung des § 28 AsylVfG wird ein Ausländer regelmäßig nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn er erst nach seiner Flucht Gründe aus eigenem Entschluss geschaffen hat, die eine Verfolgung auslösen. In diesen Fällen wird ihm aber bislang Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG ("Kleines Asyl") zuerkannt, da eine entsprechende Regelung für das Kleine Asyl fehlt. Mit der Neuregelung in § 28 Abs. 2 AsylVfG wird zukünftig auch die Zuerkennung des "Kleinen Asyls" regelmäßig ausgeschlossen, wenn nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages ein Folgeverfahren auf selbstgeschaffene Nachfluchtgründe gestützt wird. Damit wird der bislang bestehende Anreiz genommen, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenen Asylverfahren auf Grund neugeschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen."

Vor diesem Hintergrund sieht der Senat keine Grundlage für die Auffassung des Bundesamtes, für die Unterscheidung zwischen regelmäßig unbeachtlichen subjektiven Nachfluchtgründen und ausnahmsweise beachtlichen subjektiven Nachfluchtgründen komme es darauf an, ob Art und Inhalt der exilpolitischen Betätigung aus Sicht des deutschen Staates zu missbilligen seien (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Leitfaden zu den wesentlichen Änderungen des Asylverfahrens durch das Zuwanderungsgesetz (Stand: 27. Dezember 2004), S. 9: "Die subjektiven Nachfluchtgründe bleiben, obwohl Ausdruck und Fortführung einer schon während des Heimatlandes vorhandenen und erkennbar betätigten, festen Überzeugung, dann unberücksichtigt, wenn die Aktivitäten zu missbilligen sind, weil sie z.B. den Tatbestand einer Straftat erfüllen oder Ausweisungsgründe nach §§ 53 f. AufenthG vorliegen.").

Der nach dem Vorstehenden eindeutige Sinn und Zweck der Norm, der aus dem gesetzlichen Regelungszusammenhang mit § 28 Abs. 1 AsylVfG folgt und durch die Entstehungsgeschichte bestätigt wird, lässt eine derartige Auslegung nicht zu. Das gilt auch mit Blick auf die Formulierung "in der Regel" in § 28 Abs. 2 AsylVfG, nach der - über das in § 28 Abs. 1 AsylVfG normierte Regel-Ausnahme-Verhältnis hinaus - für den Anwendungsbereich des § 28 Abs. 2 AsylVfG anscheinend ein weiteres Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht. Ohne dass es hier einer weitergehenden Klärung der Frage bedarf, in welchen Fällen ein ausnahmsweises Abweichen von dem gesetzlichen Regelfall in Betracht kommt, ist jedenfalls festzuhalten, dass § 28 Abs. 2 AsylVfG insoweit lediglich eine Abweichung zu Gunsten des Schutzsuchenden ermöglicht. Denn die Regelung stellt eine Rückausnahme dar, d.h. sie erfasst Fälle, in denen Umstände, die aufgrund der Regel des § 28 Abs. 1 AslyVfG nicht zu der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG führen könnten, ausnahmsweise doch zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus führen können.

Zudem stünde eine Regelung, nach der einem von politischer Verfolgung Bedrohten Schutz nur dann gewährt wird, wenn die von dem Flüchtling vertretenen Überzeugungen und seine Handlungen gleichsam die Billigung des Aufnahmestaates finden, in Widerspruch zu den grundlegenden Strukturen des Asyl- und Flüchtlingsrechts und hätte - ungeachtet etwaiger sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergebender Bedenken - jedenfalls einer hinreichend eindeutigen gesetzlichen Regelung bedurft.

bb) Hiervon ausgehend kann die Feststellung, dass dem Kläger ein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zusteht, nicht mehr getroffen werden. Selbst wenn man insoweit zu seinen Gunsten unterstellt, dass er sich für die Ziele der Organisation Kalifatsstaat exilpolitisch engagiert hat, ist ihm Abschiebungsschutz nach § 28 Abs. 2 AsylVfG jedenfalls deshalb nicht zu gewähren, weil nicht zur Überzeugung des Senats feststeht, dass der Entschluss, sich für den Kaplan-Verband zu engagieren, einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht.