OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A - asyl.net: M7056
https://www.asyl.net/rsdb/M7056
Leitsatz:

Tschetschenen steht eine inländische Fluchtalternative in Russland offen, soweit sie sich nicht in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert haben und deswegen von den Sicherheitskräften konkret verdächtigt oder gesucht werden.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Interne Fluchtalternative, Anerkennungsrichtlinie, Tschetschenen, Flüchtlingsbegriff, Freizügigkeit, Registrierung, Gruppenverfolgung, Situation bei Rückkehr, Nichtstaatliche Verfolgung, Moslems, Rassismus, Übergriffe, Existenzminimum, Erreichbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG
Auszüge:

Tschetschenen steht eine inländische Fluchtalternative in Russland offen, soweit sie sich nicht in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert haben und deswegen von den Sicherheitskräften konkret verdächtigt oder gesucht werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beigeladenen haben keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F./§ 60 Abs. 1 AufenthG, weil ihnen in der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

Nach dem Willen des Gesetzgebers entspricht § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG a.F., wobei in § 60 Abs. 1 AufenthG aus Gründen der Klarstellung das Merkmal "Geschlecht" ausdrücklich genannt wird und die Sätze 3 bis 5 dieser Bestimmung verdeutlichen, dass sich der Schutz auch auf Fälle von nichtstaatlicher Verfolgung erstreckt (vgl. die amtliche Gesetzesbegründung, BT- Drucks. 15/420, S. 91; siehe auch BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 - 1 C 29.03 -, Asylmagazin 2005, 32 (33)).

Eine ansonsten im Verhältnis zum bisherigen Verständnis des asylrechtlichen Abschiebungsschutzes abweichende oder erweiternde Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG gebietet nicht die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EG L 304, S. 12). Zum einen ist diese - auch "Qualifikationsrichtlinie" oder "Anerkennungsrichtlinie" genannte - Richtlinie vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist (10. Oktober 2006; Art 38 Abs. 1 der Richtlinie) nicht direkt anwendbar. Zum anderen wäre § 60 Abs. 1 AuslG auch unter Beachtung der Richtlinie 2004/83/EG in seinem Kerngehalt nicht anders auszulegen als der bisherige § 51 Abs. 1 AuslG a. F. (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A -, n. v. (Langtext in juris), S. 3 ff. des Beschlussabdrucks).

Tschetschenen können sich außerhalb Tschetscheniens in anderen Bereichen der Russischen Föderation tatsächlich aufhalten (1.). Dieser Aufenthalt ist ihnen dort in rechtlicher Hinsicht vom Grundsatz her möglich (2.). Ihnen drohen in Bereichen einer inländischen Fluchtalternative nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab grundsätzlich keine abschiebungsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen (3.) und nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine anderen unzumutbaren Nachteile, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden (4.). Tschetschenen können solche Bereiche auch faktisch erreichen (5.).

1. Tschetschenen halten sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens tatsächlich auf. Dies zeigt ein Vergleich der Zahl der Tschetschenen, die einerseits in Tschetschenien und andererseits außerhalb dieser russischen Teilrepublik in sonstigen Gebieten der Russischen Föderation leben.

2. Neben der vorbeschriebenen faktischen Niederlassungsmöglichkeit steht Tschetschenen in sonstigen Bereichen der Russischen Föderation außerhalb ihres Heimatlandes die Möglichkeit einer Aufenthaltsnahme im Grundsatz auch von Rechts wegen zu.

Wie alle russischen Staatsbürger haben Tschetschenen das in Art. 27 der Russischen Verfassung verankerte Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des zeitweiligen Aufenthaltes in der Russischen Föderation außerhalb ihrer Heimatrepublik. Voraussetzung eines legalen Aufenthaltes ist eine Registrierung, die wiederum Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem ist. Das Gesetz der Russischen Föderation über Freizügigkeit und die Wahl des Aufenthaltsund Wohnortes im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation vom 25. Juni 1993 (Föderationsgesetz Nr. 5242/1) sieht eine Registrierung am Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") oder eine solche am gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") vor, bei dem die Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren Aufenthalts- bzw. Wohnort melden. Voraussetzung für eine Registrierung ist der Nachweis einer Wohnung bzw. Unterkunft. Das zuvor geltende "Propiska"-System ist abgeschafft. Dieses sah nicht nur die Meldung durch den Bürger, sondern auch eine Gestattung durch die Behörde vor (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 20. Oktober 2003 an das VG Braunschweig, vom 12. November 2003 an den Bay. VGH und vom 19. Januar 2004 an das OVG Rh.-Pf. sowie Ad hoc- Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 16. Februar 2004 (Stand: 31. Januar 2004), S. 18 f., und vom 13. Dezember 2004, S. 13 f. ; Amnesty International, Auskunft vom 16. April 2004 an den Bay. VGH; UNHCR, Auskunft vom 29. Oktober 2003 an den Bay. VGH und Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya (Februar 2003), S. 14).

Gegen eine unberechtigte Ablehnung der Registrierung bei Vorliegen aller Erfordernisse kann gerichtlich vorgegangen werden. Fälle, in denen Tschetschenen wegen ihrer Ethnie vor Gericht benachteiligt wurden, sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt geworden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. April 2004 an das VG Koblenz).

3. Der faktisch möglichen und rechtlich im Grundsatz gewährleisteten Niederlassungsmöglichkeit für Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens stehen keine staatlichen Maßnahmen entgegen, die ein Abschiebungshindernis darstellen könnten. Mancherorts gegebene behördliche Verweigerungen einer Registrierung (a) oder in bestimmten Bereichen der Russischen Föderation festzustellende sonstige staatliche Maßnahmen (b) begründen vorbehaltlich besonderer Einzelfallumstände keinen generellen Abschiebungsschutz. Tschetschenen droht außerhalb Tschetscheniens auch keine im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG relevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (c).

a) Nach der gesamten Auskunftslage ist zwar davon auszugehen, dass Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens trotz der formellen Abschaffung des "Propiska"-Systems und der Einführung einer bloßen Registrierung in bestimmten Städten und Gebieten der Russischen Föderation Schwierigkeiten haben, eine offizielle Registrierung zu erhalten (aa). Dessen ungeachtet müssen sie jedenfalls keine zwangsweise Rückführung nach Tschetschenien befürchten (bb).

b) Sonstige staatliche oder dem Staat zuzurechnende Maßnahmen gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen begründen in aller Regel ebenfalls kein Abschiebungshindernis. Tschetschenen unterliegen außerhalb Tschetscheniens wegen ihrer Volkszugehörigkeit keiner unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung.

Nach dem vorstehend Dargelegten, ist es daher zwar nicht gänzlich auszuschließen, dass Tschetschenen außerhalb ihrer Heimatrepublik in Russland das Opfer eines dem Staat zuzurechnenden Übergriffs werden können. Es ist allerdings über eine "theoretische" Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, zusätzlich erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als "reale" Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 1992 - 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191 (192), und Beschluss vom 11. Oktober 2000 - 9 B 349.00 -, Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 33, S. 32).

bb) Mögliche staatliche Kontrollmaßnahmen bei einer Rückkehr in die Russische Föderation, denen (abgeschobene) Tschetschenen unterliegen könnten, stellen die Annahme einer hinreichenden Sicherheit vor Abschiebungsschutz begründender politischer Verfolgung nicht in Frage.

cc) Aus Gründen der Klarstellung merkt der Senat noch Folgendes an: Die vorstehende Beurteilung, wonach Tschetschenen eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, gilt nur für den Regelfall. Im Falle politisch Verdächtiger, die sich in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert haben und von der russischen Staatsgewalt wegen dieses Engagements oder einer nur vermuteten Involvierung konkret verdächtigt bzw. gesucht werden, kann eine inländische Fluchtalternative nicht ohne weiteres bejaht werden. Für solche Personen wird angesichts der vorbeschriebenen staatlichen Übergriffe, die vorgekommen sind und für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, die Gefahr einer Verfolgung nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu verneinen sein.

c) Tschetschenen drohen bei einer Aufenthaltnahme außerhalb Tschetscheniens in sonstigen Landesteilen der Russischen Föderation keine Übergriffe Dritter in einem Ausmaß, dass bei dem Prognosemaßstab der "hinreichenden Sicherheit" anzunehmen wäre, es liege die Gefahr einer im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG relevanten Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure vor.

Insgesamt sind daher bei einer Gesamtschau der vorliegenden tatsächlichen Erkenntnisse auch bei dem Maßstab der "hinreichenden Sicherheit" keine objektiven Anhaltspunkte zu erkennen, dass gegenwärtig und in absehbarer Zeit die "reale Möglichkeit" gegeben ist, dass Tschetschenen in Bereichen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens die Gefahr einer im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG relevanten Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten hätten. Die zum Teil gemeldeten und verbürgten fremdenfeindliche Übergriffe sind nur äußerst vereinzelt. Zudem wird in den vorliegenden Erkenntnissen meist nicht mitgeteilt, ob etwaige Angriffe Privater auf Tschetschenen oder einer kaukasischen Herkunft zugerechnete Personen in einem Zusammenhang mit tschetschenischen Terroranschlägen bzw. einer tschetschenischen/kaukasischen Herkunft stehen oder einen nur allgemeinen kriminellen Hintergrund hatten. Schließlich besitzen sie schon nicht das nötige Gewicht, um den Schluss zuzulassen, dass im Verhältnis zu der Anzahl außerhalb Tschetscheniens lebender ethnischer Tschetschenen einem jeden von ihnen drohe dort die "reale Gefahr", Opfer eines möglichen Übergriffs aus ethnischen Motiven zu werden.

4. Eine Ausweichmöglichkeit für tschetschenische Volkszugehörige in andere Bereiche der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens scheidet auch nicht wegen einer etwaigen Gefährdung des wirtschaftlichen und sozialen Existenzminimums aus.

5. Tschetschenen können sich auch tatsächlich in andere Bereiche der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens begeben.

Denn es ist allgemeinkundig, dass zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation Verkehrsverbindungen auf dem Land-, Luft- und Seeweg bestehen. Entsprechende Reiseverbindungen sind innerhalb der Russischen Föderation gegeben.

Faktisch erfolgt die Rückführung russischer Staatsangehöriger in die Russische Föderation von Deutschland aus auf dem Luftweg. Auch andere westliche Staaten, wie z. B. Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande und Belgien nehmen Rückführungen russischer Staatsangehöriger in die Russische Föderation vor (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26. März 2004, S. 19).