Schadensersatz für rechtswidrige Abschiebungshaft nach Art. 5 Abs. 5 EMRK auch dann, wenn der Ablehnungsbescheid im Asylverfahren wegen eines Formfehlers nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist und deshalb die Aufenthaltsgestattung noch nicht erloschen war.
Schadensersatz für rechtswidrige Abschiebungshaft nach Art. 5 Abs. 5 EMRK auch dann, wenn der Ablehnungsbescheid im Asylverfahren wegen eines Formfehlers nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist und deshalb die Aufenthaltsgestattung noch nicht erloschen war.
(Leitsatz der Redaktion)
Die Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg, denn das Landgericht hat mit zutreffenden Gründen einen Schadenersatzanspruch bejaht.
1. Gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK hat jede Person Anspruch auf Schadenersatz, die unter Verletzung von Art. 5 EMRK von einer Freiheitsentziehung betroffen ist. Nach Wortlaut und Systematik von Art. 5 EMRK ist die Freiheitsentziehung zulässig, wenn
- sie auf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im innerstaatlichen Recht beruht, nach innerstaatlichem Recht "rechtmäßig" ist (BGHZ 57, 33 [38] = NJW 1971, 1986),
- die Freiheit auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen wird - das ist die Freiheitsentziehung im Rahmen eines vom nationalen Recht angeordneten Verfahrens - und
- die innerstaatlichen Regelungen über die Ermächtigungsgrundlage und das Verfahren mit den in Art. 5 EMRK enthaltenen Garantien, insbesondere den Eingriffsvorbehalten des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. a) - f) EMRK übereinstimmen, also einer der dort genannten Haftgründe vorliegt (Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Handkommentar, 1. Aufl. 2003, Art. 5 Rdnr. 4; Peukert in Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 5 Rdnr. 24; Renzikowski, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention von Heribert Golsong, Wolfram Karl u.a., 7. Ergänzungslieferung Juni 2004, Art. 5 Rdnr. 70 mit umfangreichen Nachweisen zur Rechtsprechung in den Fn. 173 - 174).
Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezieht den Ausdruck rechtmäßig häufig gleichzeitig auf das materielle Recht und das Verfahrensrecht (Peukert, Rdnr. 24 und Fn. 51; weitere Nachweise bei Renzikowski, Rdnr. 70, dort Fn. 173). Aus der Verweisung auf dass innerstaatliche Recht folgt die Konventionsverpflichtung, die materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedsstaats einzuhalten (Meyer-Ladewig, Rdnr. 4). Da Art. 5 EMRK auch auf eine Rechtmäßigkeit der Haft nach innerstaatlichem Recht abstellt, ist ein Entschädigungsanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK selbst dann zu bejahen, wenn das nationale Recht in einem Punkt verletzt wurde, in dem es über die Anforderungen der EMRK hinausgeht (Peukert, Rdnr. 158).
Wenn die Freiheitsentziehung unter Verletzung einer der Garantien des Art. 5 Abs. 1 - 4 EMRK erfolgt, besteht ein unmittelbarer, direkter und verschuldensunabhängiger Anspruch auf Schadenersatz, denn die EMRK ist unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht (BGHZ 122, 268 [269 f., 278]; BGHZ 45, 58 [65 ff]; BGHZ 45, 30 [33]; BGHZ 45, 46 [48 ff.]; KG StV 1992, 584; OLG Schleswig, OLGR 2002, 165; Peukert, Rdnr. 156 + 158). Der Anspruch aus Art. 5 EMRK ist vor den ordentlichen Gerichten der Zivilgerichtsbarkeit geltend zu machen. Diese prüfen in eigener Verantwortung das Vorliegen der Voraussetzungen eines auf Art. 5 Abs. 5 EMRK gestützten Schadenersatz- oder Schmerzensgeldanspruchs (OLG Hamm JMBl NW 2003, 114 = InfAuslR 2003, 156 = FGPrax 2003, 98). Der Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK umfasst auch den Ersatz des immateriellen Schadens, also Schmerzensgeld (BGHZ 122, 268 [279 f.]).
2. Da Art. 5 EMRK auch auf eine Rechtmäßigkeit der Haft nach innerstaatlichem Recht abstellt, ist ein Entschädigungsanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK selbst dann zu bejahen, wenn das nationale Recht in einem Punkt verletzt wurde, in dem es über die Anforderungen der EMRK hinausgeht (Peukert, Rdnr. 158). Durch die Formulierungen "auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg" und "rechtmäßig festgenommen oder in Haft gehalten" nimmt die Konvention Bezug auf das nationale Recht. Deshalb ist eine Freiheitsentziehung auch dann konventionswidrig, wenn sie vom innerstaatlichen Recht nicht gedeckt ist (EGMR NJW 1987, 3066 [3067, Ziffer 54] = EuGRZ 1987, 101 [106 Ziffer 54]; BGHZ 122, 268 [270]; OLG Köln NVwZ 1997, 518). Es ist deshalb erforderlich, dass die Freiheitsentziehung eine im innerstaatlichen Recht vorgesehene materiellrechtliche Grundlage hat. Für die Frage einer rechtmäßigen Inhaftierung ist nur auf Zulässigkeit der Anordnung der Abschiebehaft abzustellen, nicht auf die der Rechtmäßigkeit der Abschiebung (Meyer-Ladewig, Rdnr. 23).
a. Die erforderliche materiellrechtliche Grundlage ist vorhanden. Sie findet sich in der damals noch anzuwendenden Vorschrift des § 57 AuslG.
b. Die Freiheitsentziehung muss in einem Verfahren angeordnet worden sein, das den entsprechenden innerstaatlichen Anforderungen gerecht wird (OLG Hamm NJW 1989, 1547; OLG Köln NVwZ 1997, 518).
c. Die nicht beziehungsweise fehlerhaft erfolgte Zustellung des Ablehnungsbescheids stellt einen Verfahrensverstoß dar, weshalb die Freiheitsentziehung nicht auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg erfolgt ist.
aa. Das beklagte Land ist der Ansicht, die fehlerhafte Entscheidung über die Anordnung der Abschiebehaft sei auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg erfolgt, weshalb kein Schadenersatzanspruch bestehe. Die Zustellung des Ablehnungsbescheids gehöre nicht zu dem Verfahren, welches für die Anordnung und Überprüfung der Freiheitsentziehung zu beachten sei.
bb. Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Denn es geht bei der Frage der ordnungsgemäßen Zustellung der Ablehnung des Asylantrages nicht nur um eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Abschiebungsverfahrens, sondern auch um die materiellen Voraussetzungen für eine Haftanordnung. Das wegen der fehlerhaften Zustellung weiterhin bestehende Aufenthaltsrecht steht einer Haftanordnung entgegen (OLG Karlsruhe NVwZ 1993, 811 [812]; BayObLG NVwZ 1993, 102).
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die gemäß § 31 Abs. 1 AsylVfG förmlich zuzustellende Entscheidung über die Ablehnung des Asylantrages dem Kläger nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist. Infolgedessen war dem Kläger gemäß §§ 55 Abs. 1, 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG der (weitere) Aufenthalt in Deutschland gestattet. Die in § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG normierte Aufenthaltsgestattung gewährt ein gesetzliches Aufenthaltsrecht und macht den Aufenthalt des Ausländers rechtmäßig. Eine zuvor bestehende Ausreiseverpflichtung oder eine Abschiebungsverfügung wird rechtswidrig (Hailbronner, Ausländerrecht, 39. Aktualisierung, Februar 2005, § 55 AsylVfG Rdnr. 2, 10 f., 26; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 57 AuslG Rdnr. 14). § 67 AsylVfG regelt die Frage eines Erlöschens der Aufenthaltsgestattung. Hier ist § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG einschlägig, wonach die Aufenthaltsgestattung erlischt, wenn die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag unanfechtbar geworden ist (Hailbronner, a.a.O., § 57 AsylVfG Rdnr. 14, 16). Wegen der fehlerhaften Zustellung war der Ablehnungsbescheid nicht unanfechtbar, der Kläger also nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt.
Ein erster Asylantrag, für den in jedem Falle ein Asylverfahren durchgeführt werden muss, steht einer Abschiebehaftanordnung entgegen, solange die gesetzliche Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 AsylVfG) besteht. Der Haftrichter muss die bei einem ersten Asylantrag gegebene gesetzliche Aufenthaltsgestattung von Amts wegen beachten. Die gesetzliche Aufenthaltsgestattung ist somit nicht nur ein Abschiebungshindernis und auch kein nur vorübergehendes Hafthindernis, sondern auch ein Abschiebungshafthindernis. Der Haftrichter hat daher bei einem ersten Asylantrag auch zu prüfen, ob die gesetzliche Aufenthaltsgestattung erloschen ist (OLG Karlsruhe NVwZ 1993, 811 [812]; BayObLG NVwZ 1993,102; Renner, a.a.O., § 57 AuslG Rdnr. 14).
Die Inhaftierung war im Hinblick auf das zu diesem Zeitpunkt bestehende Aufenthaltsrecht rechtswidrig.
cc. Das Oberlandesgericht Köln hat in einem vergleichbaren Sachverhalt - es ging um die rechtsunwirksame Zustellung eines Ablehnungsbescheids - Prozesskostenhilfe für eine Schadenersatzklage abgelehnt. Zur Begründung wurde auf den Wortlaut des Art. 5 Abs. 5 EMRK abgestellt. Danach müsse die Freiheitsentziehung als solche gegen Art. 5 EMRK verstoßen, nicht bloß die Art und Weise des dabei beobachteten Verfahrens (OLG Köln, NVwZ 1997, 518). Dem entsprechend wird ausgeführt, eine fehlerhafte Anwendung von (innerstaatlichen) Vorschriften über die Inhaftierung begründe abgesehen vom Fall der Willkür keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (OLG Hamm NJW 1989, 1547 unter Hinweis auf EGMR NJW 1987, 3066 [3067] = EugRZ 1987, 101; BGHZ 57, 33 [43] = NJW 1971, 1986 [1989]; Peukert, a.a.O., Rdnr. 28, 29: "nur die Aufgabe einer Missbrauchs-, beziehungsweise Willkürkontrolle"; Trechsel EuGRZ 1980, 520). Der Begriff der "Rechtmäßigkeit" in Art. 5 Abs. 1 EMRK wird damit auf "nicht willkürlich" reduziert (ebenso Seebode, NStZ 1989, 328).
dd. Im Gegensatz zu den zitierten Entscheidungen der Oberlandesgerichte Köln und Hamm geht der Senat mit dem erstinstanzlichen Urteil von einem weiteren Verständnis des Art. 5 EMRK aus. Die Vorschrift des Art. 5 EMRK ist darauf ausgerichtet, grundsätzlich jede rechtswidrige Freiheitsentziehung zu unterbinden. Ausgangspunkt der Rechtskontrolle ist die in Art. 5 EMRK enthaltene Verweisung auf das nationale Recht. Danach muss jede unter Art. 5 EMRK fallende Maßnahme mit den formellen und materiellen Erfordernissen des jeweiligen nationalen Rechts in Einklang stehen. Ein Verstoß gegen das nationale Recht ist auch ein Verstoß gegen Art. 5 EMRK (BGHZ 57, 33 [41 f] = NJW 1971, 1986 [1988]: "Gewiss knüpft grundsätzlich die Menschenrechtskonvention die Schadenersatzpflicht in Art. 5 MRK an objektiv rechtswidriges Verhalten, ..."; EGMR EuGRZ 1979, 653 f.; KG StV 1992, 584; OLG Oldenburg, Beschluss vom 12.01.2004, 6 W 112/03 {n.v.}; Peukert, a.a.O, Rdnr. 24,29; Seebode, NStZ 1989, 328 [329]).