VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 21.06.2005 - 10 K 880/02.A - asyl.net: M7072
https://www.asyl.net/rsdb/M7072
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG bei psychischer Erkrankung wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten in Ruanda; aus dem Vorliegen von Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht zwingend auf ein traumatisches Ereignis geschlossen werden, die Symptome können aber im Wege der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.

 

Schlagwörter: Ruanda, Drittstaatenregelung, Einreise, Luftweg, Glaubwürdigkeit, Posttraumatische Belastungsstörung, traumatisierte Flüchtlinge, Fachärztliches Gutachten, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Psychische Erkrankung, Medizinische Versorgung, alleinstehende Minderjährige, Suizidgefahr
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 2; AsylVfG § 26a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG bei psychischer Erkrankung wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten in Ruanda; aus dem Vorliegen von Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht zwingend auf ein traumatisches Ereignis geschlossen werden, die Symptome können aber im Wege der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

a) Die Kläger haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte.

Dass es nicht möglich ist, eine entsprechende Feststellung zu treffen, ergibt sich daraus, dass die Klägerin zu 1. unglaubwürdig und ihr Vorbringen unglaubhaft ist.

Die ärztlichen Ausführungen vermögen in dieser Form insgesamt nicht zu überzeugen.

Für die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) muss ein Trauma (= Wunde, Verletzung) nachgewiesen werden. Ohne Trauma gibt es keine Posttraumatische Belastungsstörung. Aus den Symptomen kann nicht geschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat. Das wäre nur möglich, wenn eine eindeutige Beziehung zwischen pathognomonischer Symptomatik der PTBS und Trauma bestehen würde, d.h. entsprechende Symptomschilderungen nur gegeben werden können, wenn ein Trauma tatsächlich stattgefunden hat. Eine solche eindeutige Beziehung besteht aber nicht, da z.B. die Symptome der PTBS auch ohne stattgehabtes Trauma geäußert werden können oder im Rahmen einer anderen Erkrankung, z.B. einer Schizophrenie oder schweren depressiven Episode, als Symptom, z.B. als Wahnerinnerung auftreten können. Für den Gutachter bedeutet dies, dass er nur eine PTBS diagnostizieren kann, wenn auch ein Trauma nachgewiesen ist. Da gerade dies in Asylverfahren oft strittig ist, muss in jedem Gutachten die Einschränkung enthalten sein, dass die Diagnose einer PTBS nur gilt, wenn vom Gericht - nicht vom Gutachter - nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden kann, dass das behauptete Trauma stattgefunden hat. Ein Trauma kann nicht dadurch bewiesen werden, dass die Symptomatik einer PTBS dem Gutachter glaubhaft dargestellt wird. Der Gutachter kann allerdings durchaus Angaben dazu machen, ob die Symptomatik typisch für eine PTBS wäre - im Falle eines Traumas, ob sie als typisch geschildert wird, einen typischen Verlauf nimmt o.Ä. Das Gericht kann dann diese Angaben zu seiner Beweiswürdigung heranziehen (vgl. Ebert/Kindt, Die Posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, 41).

Es ist auch nicht gerechtfertigt, dem Gutachter die abschließende vorbehaltlose Diagnose einer PTBS zu überlassen. Er hat die Angaben des Asylklägers, kann sich im Übrigen auf seinen ärztlichen Sachverstand und seine Lebenserfahrung stützen. Das Gericht hingegen hat Hunderte von Erkenntnismitteln bezüglich der Verhältnisse in dem betreffenden Staat, in dem die Verfolgung erfolgt sein soll, und im Übrigen, wie auch der vorliegende Fall zeigt, die Möglichkeit, einen Apparat mit dem Ziel in Bewegung zu setzen, der Frage nachzugehen, ob es zu bestimmten Vorgängen im Heimatland des Asylklägers, so wie von diesem geschildert, gekommen ist oder ob sie sich wenigstens zugetragen haben können.

c) Doch steht ihnen § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG zur Seite. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare bzw. entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen vor.

Die Klägerin zu 1. leidet an einer Krankheit auf psychischem Gebiet. Die Kammer folgt den ärztlichen Stellungnahmen von Dr. ... insoweit, als darin - ausführlich - bestimmte Symptome dargestellt worden sind und die Auffassung vertreten wird, die Klägerin zu 1. bedürfe der Therapie, die Therapie müsse in der Bundesrepublik Deutschland erfolgen. Die Wertung von Dr. ... findet darin eine Stütze, dass die Klägerin zu 1. vom 15. bis 28. Januar 2003 auf einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie des Krankenhauses stationär untergebracht war und seinerzeit bei ihr akute Suizidalität bestand (vgl. S. 8 des Gutachtens von Dr. ... vom 5. August 2004). Auch später war sie "immer wieder kurz akut suizidal" (vgl. S. 12 des Gutachtens).

Wie die Krankheit heißt, bedarf dabei keiner Klärung. Es kann auch eine Posttraumatische Belastungsstörung sein, wobei dann allerdings offen wäre, worin das zugunde liegende Trauma zu sehen ist. Denkbar erscheint, dass die Klägerin zu 1. in ihrer Heimat in anderer Weise als von ihr behauptet schwer verletzt worden ist. Möglicherweise ist auch die Diagnose von Dr. ... falsch. Auf S. 23 des Gutachtens vom 5. August 2004 hat er selbst differentialdiagnostische Überlegungen angestellt. Diese Erwägungen ändern aber nichts daran, dass die Klägerin zu 1. ernsthaft krank ist und zu erwarten steht, dass es im Falle ihrer Rückkehr nach Ruanda zu einer Verschlimmerung des Zustandes käme, der mit einer erheblichen Gefahr für sie verbunden wäre.

Im Übrigen kann die gebotene Behandlung der Klägerin zu 1. in Ruanda ohnehin nicht erfolgen. Sowohl im privaten wie im staatlichen Gesundheitssektor bleiben die Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten bei chronischen Krankheiten (insbesondere Innere Medizin und, worum es im vorliegenden Fall geht, Psychiatrie) unzureichend (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ruanda (Stand: Oktober 2003) vom 07. Oktober 2003 (S. 18)).

Dem Kläger zu 2. ist in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - und damit über den nach Satz 2 der Vorschrift begrenzten Anwendungsbereich hinaus - Schutz vor Abschiebung zu gewähren. Er würde unmittelbar nach seiner Einreise in Ruanda aufgrund der dort herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) in eine extreme Gefährdungslage geraten, die ihn mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit dem sicheren Tode oder schwersten Verletzungen ausliefern würde. Ohne die Klägerin zu 1., der, wie dargelegt, ein Abschiebungsverbot zur Seite steht, kann er dort nicht überleben.