VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 02.05.2005 - 12 TG 1205/05 - asyl.net: M7083
https://www.asyl.net/rsdb/M7083
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Zwingende Ausweisung, Ermessen, Spezialprävention, in Deutschland geborene Kinder, Verhältnismäßigkeit, Zwingende Gründe der öffentliche Sicherheit, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: ARB NR. 1/80 Art. 7 S. 2; RL 2004/38/EG
Auszüge:

Zu Recht legt die angefochtene Verfügung als Ausgangspunkt zu Grunde, dass der Antragsteller als in Deutschland geborenes und aufgewachsenes Kind eines türkischen Arbeitnehmers, weil er hier auch eine Berufsausbildung abgeschlossen hat, assoziationsberechtigt nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 ist. Daraus folgt auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29/02 - InfAuslR 2005, 26), dass der Antragsteller in materieller Hinsicht den gleichen Ausweisungsschutz genießt wie freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger. Das materielle Gemeinschaftsrecht verlangt, jeden Anschein zu vermeiden, dass strafrechtliche Verurteilungen einer hierdurch privilegierten Person keine andere Rechtsfolge zulassen als ihre Ausweisung oder jedenfalls eine gewisse "Vermutung zugunsten ihrer Ausweisung" begründen (BVerwG, a.a.O.). Hieraus ergibt sich zunächst, dass § 53 AufenthG als Rechtsgrundlage für eine Ausweisung des Antragstellers ausscheidet (BVerwG, a.a.O. zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 47 AuslG).

Soweit die Verfügung im weiteren (S. 3 ff.) die Ausweisung selbstständig mit spezialpräventiven Gründen rechtfertigt, entspricht dieser Ansatz zwar grundsätzlich den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Die Ermessenserwägungen des Antragsgegners tragen jedoch derzeit nicht hinreichend dem Umstand Rechnung, dass der Antragsteller in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und auf der Grundlage des dem Senat im Eilverfahren vorliegenden Sachverhalts keinerlei Beziehungen zur Türkei hat außer der formalen Staatsangehörigkeit.

Diese Erwägungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung könnten jedoch in gleicher Weise auch für einen türkischen Staatsangehörigen gelten, der nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Der besondere Status eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, wird in der Verfügung hingegen nicht gewichtet. Dies macht die Beschwerde sinngemäß mit der Bezugnahme auf die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 auch geltend, auf die der Antragsteller im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht im einzelnen hingewiesen hat, ohne dass das Verwaltungsgericht darauf eingegangen ist. Nach Erwägungsgrund 24 dieser Richtlinie soll die Ausweisung eines Unionsbürgers insbesondere in Fällen, in denen dieser im Aufnahmestaat geboren ist und sein ganzes Leben bisher dort seinen Aufenthalt gehabt hat, nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgen. Umgesetzt ist dieser Erwägungsgrund u.a. in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie, wonach die Ausweisung eines Unionsbürgers, der sich in den letzten 10 Jahren im Aufnahmemitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgen darf. Das bedeutet, dass die Ausweisung eines Unionsbürgers - und damit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen -, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, nur aus Gründen erfolgen darf, die über die für eine Ausweisung an sich hinreichenden schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (Art. 28 Abs. 2 Richtlinie) hinaus gehen. Zwar ist der Beschwerde nicht dahin zu folgen, dass die Richtlinie bereits heute unmittelbar anzuwenden ist, da die Umsetzungsfrist nämlich erst am 30. April 2006 abläuft. Die Erwägungsgründe zu der Richtlinie zeigen jedoch, dass die dort niedergelegten Grundsätze bereits dem heutigen gemeinschaftsrechtlichen Stand der Freizügigkeitsrechte entsprechen (siehe Hess. VGH, 29.12.2004 - 12 TG 3649/04 - DVBl. 2005, 320). Dies erfordert zumindest eine spezifische Berücksichtigung und Gewichtung des Umstands, dass ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, in den Ermessenserwägungen einer Ausweisungsverfügung.