FG Baden-Württemberg

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Zitieren als:
FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.03.2005 - 8 S 1/05 - asyl.net: M7084
https://www.asyl.net/rsdb/M7084
Leitsatz:

Kindergeld nach § 62 Abs. 2 S. 1 EStG setzt nicht den tatsächlichen Besitz eines Aufenthaltstitels voraus, sondern es genügt, wenn die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels vorliegen (Änderung der Rspr. des Senats).

 

Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Aufenthaltsbefugnis, Aufenthaltsgenehmigung, Anspruch, Aufenthaltstitel, Gleichheitsgrundsatz, Besitz, Prozesskostenhilfe
Normen: EStG § 62 Abs. 2 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

Kindergeld nach § 62 Abs. 2 S. 1 EStG setzt nicht den tatsächlichen Besitz eines Aufenthaltstitels voraus, sondern es genügt, wenn die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels vorliegen (Änderung der Rspr. des Senats).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach Aktenlage im Zeitpunkt der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe besteht bei summarischer Prüfung zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Klage der Antragstellerin hinreichend Aussicht auf Erfolg verspricht. Erfolgsaussichten können in diesem Sinne zu bejahen sein, wenn es bei der Hauptsache um schwierige Fragen geht, über die im Prozesskostenhilfeverfahren eine abschließende Beurteilung nicht möglich ist und wenn das Begehren des Klägers nicht von vornherein als aussichtslos erscheint (vgl. Bundesfinanzhof [BFH] Beschluss vom 13. September 2000, VI B 134/00, Bundessteuerblatt [BStBl] II 2001, 108).

Ein Ausländer hat nach § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG nur Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltsgenehmigung ist. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat inzwischen hinsichtlich der Kindergeldgewährung in den Jahren 1994 und 1995 nach den Bestimmungen des § 1 Abs. 3 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 entschieden, dass diese Vorschrift mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sei (BVerfG-Beschluss vom 6. Juli 2004, 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97, NVwZ 2005, 201). Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, die verfassungswidrige Norm durch eine Neuregelung auch von noch nicht rechts- und bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren bis zum 1. Januar 2006 zu ersetzen. Die Nichtgewährung von Kindergeld an Ausländer, die keine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung, sondern nur eine Aufenthaltsbefugnis haben, ist nach Ansicht des BVerfG verfassungswidrig. Diese Bestimmung des BKGG in der v. g. Fassung, die insoweit mit § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG inhaltsgleich ist, ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.

Im Streitfall geht es um die rückwirkende Gewährung von Kindergeld, das der Antragstellerin zwar nicht deshalb verwehrt wurde, weil sie nur eine Aufenthaltsbefugnis anstelle einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltsgenehmigung gehabt hätte, sondern deshalb, weil sie für den Zeitraum, für den sie für ihre beiden Kinder Kindergeld begehrt, trotz ihrer materiell-rechtlichen Berechtigung zum unbefristeten Aufenthalt in Deutschland noch nicht im Besitz der Aufenthaltsgenehmigung war. Diese Ungleichbehandlung zwischen Ausländern, die trotz ihrer materiell-rechtlichen Berechtigung, die wie im Streitfall durch die zuständige Behörde auch nachträglich für den streitigen Zeitraum festgestellt wurde, und denen die ebenfalls materiell-rechtlich berechtigt sind und darüber hinaus auch die ausländerrechtliche Aufenthaltsgenehmigung rechtzeitig in Besitz haben, könnte im Lichte der Erkenntnisse des v. g. Beschlusses des BVerfG ebenfalls gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Dies gilt insbesondere, weil das BVerfG die Regelung zur Zielerreichung als ungeeignet einstufte, soweit es das Ziel des Gesetzgebers war, Kindergeld nur solchen Ausländern gewähren zu wollen, von denen zu erwarten sei, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben könnten (BVerfG Beschluss vom 6. Juli 2004, 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97, NVwZ 2005, 201).

Für die Gewährung von Kindergeld an Ausländer ist nach § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG Tatbestandsvoraussetzung, "m Besitz" einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltsgenehmigung zu sein. Erforderlich für die Gewährung von Kindergeld ist somit der Besitz einer Aufenthaltsbefugnis oder Aufenthaltsgenehmigung. Gemessen an den Grundsätzen des v. g. Beschlusses des BVerfG ist der Tatbestand des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG verfassungskonform extensiv auszulegen, so dass auch eine Aufenthaltsbefugnis als ausreichender Aufenthaltstitel anzusehen ist. Im Streitfall ist dies letztlich nicht entscheidungserheblich, sondern vielmehr, wie das Tatbestandsmerkmal "m Besitz" eines Aufenthaltstitels auszulegen ist. Nach bisheriger Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Literatur, bedeutet ,,im Besitz", dass der Ausländer den Aufenthaltstitel körperlich in Händen hält (BFH-Beschluss vom 1. Dezember 1997, VI B 147/97, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH [BFH/NV] 1998, 696; vgl. BFH-Beschluss vom 18. Dezember 1998, VI B 221/98, BStBl II 1999, 140; Felix, in: Kirchhof, EStG, 3. Aufl., § 62 Rz. 2 m. w. N.; a. A. FG Münster, Urteil vom 15. März 2002, 11 K 4607/01 Kg, EFG 2002, 927 hinsichtlich des Anspruchs auf Kindergeld zwischen Ablauf und erneuter Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis). Die Bestimmung des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG knüpfe nach Ansicht des BFH nach seinem eindeutigen Wortlaut an den "Besitz" eines Aufenthaltstitels an. Diese Voraussetzung sei nur und erst dann erfüllt, wenn der Ausländer einen Aufenthaltstitel tatsächlich in Händen hält, ihm also das Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik durch entsprechenden Verwaltungsakt mit Wirkung für die Bezugszeit des Kindergeldes zugebilligt worden sei (BFH-Beschluss vom 1. Dezember 1997, VI B 147/97, BFH/NV 1998, 696). Das Tatbestandsmerkmal "im Besitz" stehe einem rückwirkenden Bezug von Kindergeld entgegen (Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, 23. Aufl., Rz. 8; Felix, in: Kirchhof, EStG, 3. Aufl., § 62 Rz. 2 m. w. N.).

Nach der bisherigen in Rechtsprechung und Literatur vertretenen am Wortlaut des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG orientierten Auslegung des Tatbestandsmerkmals "im Besitz" stünde der Antragstellerin kein Anspruch auf rückwirkenden Bezug von Kindergeld für ihre beiden Kinder im streitigen Zeitraum zu. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wäre mangels Erfolgsaussicht unbegründet und Prozesskostenhilfe wäre zu versagen. Der Senat ist bei summarischer Prüfung der Ansicht, dass im Lichte der v. g. Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr länger an dieser einschränkenden grammatikalischen Auslegung des Tatbestands des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG festzuhalten ist. Er hält es bei verfassungskonformer Auslegung des Tatbestandes für rechtlich vertretbar, die materiell-rechtliche Berechtigung eines Ausländers zum Aufenthalt in Deutschland zur Begründung eines Anspruchs auf Kindergeld als ausreichend anzusehen, zumindest für die Fälle, in denen der Aufenthaltstitel wie im Streitfall nachträglich erteilt wird. Die Klage hat demnach ausreichende Erfolgsaussichten, so dass Prozesskostenhilfe zu gewähren ist.