VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 27.06.2005 - 4 K 680/05.A - asyl.net: M7096
https://www.asyl.net/rsdb/M7096
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Kämpfer (ehemalige), Glaubwürdigkeit, Fahndungslisten, Situation bei Rückkehr, Folter, Misshandlungen, Strafverfahren, Menschenrechtswidrige Behandlung, PKK, Terrorismus, Sicherheitskräfte, Haft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz aus § 60 Abs. 1 AufenthG.

2.1.4 Die von dem Kläger im Folgeantragsverfahren vorgelegte "Fahndungsliste" und das Ergebnis der Auskunft der Deutschen Botschaft dazu vom 7. Januar 2004 (RK 516 AS/L) räumen die Zweifel an der Behauptung des Klägers nicht aus, von 1992 bis 1995 Guerillakämpfer der PKK gewesen zu sein. Die von dem Kläger präsentierte "Fahndungsliste" vom 2. Februar 2001 und das dazu vorgelegte Schreiben des "Gouverneursamtes von Ui, Sicherheitsbehörde" sind nach Auskunft der Botschaft allerdings echt. Der Name des Klägers ist auf der Liste unter Nr. 000 aufgeführt. Nach dem Anschreiben vom gleichen Tag führt die Liste eine Reihe wegen ideologischer Straftaten gesuchter Personen auf. Aus der genannten Auskunft der Deutschen Botschaft in Ankara ergibt sich weiter, dass nach dem Kläger wegen einer Straftat mit terroristischem Hintergrund gefahndet wird. Andererseits wiederum sind gegen ihn keine offiziellen strafrechtlichen Ermittlungen anhängig, auch ist kein Haftbefehl erlassen worden. Schon in der Auskunft des Auswärtigen Amtes im Erstverfahren vom 30. November 2000 (514-516.80/36748) war bescheinigt worden, dass im Personenstandsregister für den Kläger kein Suchvermerk eingetragen worden war. Aus diesen Zusammenhängen muss man schließen, dass es sich bei der "Fahndungsliste" vom 2. Februar 2001 um ein von den Polizeidienststellen geführtes Datenblatt handelt, das außerhalb der ordentlichen Strafverfolgung geführt wird. Die von der Deutschen Botschaft in Ankara ermittelte Fahndung nach dem Kläger "wegen einer Straftat mit terroristischem Hintergrund" kann sich nur auf die mit diesem Datenblatt verbundenen polizeilichen Nachforschungen beziehen. Denn glaubhafte Anhaltspunkte für handfeste strafrechtliche Ermittlungen gegen den Kläger gibt es nicht.

2.1.4.1 Datenblätter außerhalb strafrechtlicher (staatanwaltlicher) Ermittlungen haben jedenfalls in der Vergangenheit in der Türkei existiert. Polizei, Jandarma und Geheimdienst in der Türkei führen Datenblätter (Fisleme) über auffällig gewordene Personen, die z.B. auch Angaben über Verfahren enthalten, die mit Freispruch endeten oder über Vorstrafen, die im Strafregister längst gelöscht wurden. Es können auch Personen registriert werden, sofern dies von den Sicherheitsbehörden für erforderlich gehalten wird, z.B. wenn Familienangehörige PKK-Mitglieder sind oder sie in einem Verhör von Dritten beschuldigt werden. Eine gesetzliche Grundlage für diese "Aufschreibungen" gibt es nicht, auch werden Erkenntnisse aus solchen "Aufschreibungen" von den Gerichten nicht als Beweismittel zugelassen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. Oktober 2000 an das OVG Münster, 514-516.80/36443; vom 7. Januar 1999 an das VG Freiburg, 514.516.80/3 TUR). Es handelt sich um Daten über Verdächtige, deren Verwandten und Zeugen. Die Datenerhebung findet "unter der Hand" statt (Rumpf, Gutachten vom 27. September 1999 für das VG Freiburg). Dafür spricht auch das von dem Kläger vorgelegte Begleitschreiben vom 2. Februar 2001, das die besondere Geheimhaltungsbedürfigkeit der Angelegenheit und den vorsichtigen Umgang "mit der Angelegenheit" betont. In der Vergangenheit wurden aktenkundig gewordene Personen in Karteien erfasst, heute werden diese Daten mittels PC erfasst und gespeichert. Listen zu gesuchten oder verdächtigen Personen enthalten lediglich deren Personalangaben (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11. April 2003 an das VG Stuttgart, 508-516.80/41120). Die Aufführung in einer entsprechenden Liste kann, jedenfalls wenn sie mit einer abgeurteilten schweren Straftat verbunden ist, bei einer Wiedereinreise in die Türkei zu einer intensiven Befragung führen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. August 2004 an das VG Hamburg, 508-516.80/42703). Andererseits wird die Registrierung (Fisleme) den Dienststellen der Sicherheitsbehörden an den Grenzübergängen oder anderen Dienststellen nicht gemeldet. Man kann nicht sagen, dass die Republikanische Staatsanwaltschaft, die Generaldirektion der Polizei und die Datenerfassungszentrale ebenfalls davon Kenntnis haben. Der Sachverhalt wird bei den routinemäßig zur Überprüfung der Identität und etwaiger Vorstrafen angestellten Nachforschungen nicht entdeckt werden. Nur wenn die Nachforschungen derart ausgedehnt werden, dass eine Anfrage bei den örtlichen Behörden des früheren Wohnortes gestellt wird, ist es möglich, dass die Registrierung bekannt wird (Gutachten Kaya vom 10. Juli 2004). Anfragen bei der für den Geburtswohnsitz oder bekannten Hauptwohnsitz des Einreisenden zuständigen Polizeidienststelle sind jedoch wohl nicht nur im Ausnahmefall Praxis (Rumpf, a.a.O. vom 27. September 1999). Welche Kriterien für eine Weitergabe der Datenblätter gelten, bzw. angewendet werden, ist letztlich nicht bekannt und auch nicht zu ermitteln (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 7. Januar 1999 an das VG Freiburg, 514-516.80/3 TUR, vom 31. März 1999 an das VG Mainz, 514-516.80/33321). Nicht immer ist allein mit der Aufnahme des Namens in ein Datenblatt die konkrete Gefahr politischer Verfolgung des Namensträgers verbunden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 9. Januar 1998 an das VG Oldenburg, 514-516.80/30781).

2.1.4.2 Aus diesen kein völlig klares Bild ergebenden Erkenntnissen ist für die Lage des Klägers folgendes abzuleiten: Die Aufnahme in das vorgelegte Datenblatt belegt nicht, dass der Kläger als Guerillakämpfer gesucht wird. Das ist schon deshalb zu verneinen, weil bei konkreten Verdachtsmomenten in dieser Hinsicht wegen der Schwere des Tatvorwurfs strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden wären, was nicht der Fall ist. Die Eintragung in das Datenblatt belegt nicht, dass der Kläger als Täter oder Teilnehmer einer Einzeltat mit terroristischem Hintergrund gesucht wird. Abgesehen davon, dass er dazu keinen Sachverhalt benennen kann (die behauptete Aktion zu einem Mord an einem oder drei der PKK missliebig gewordenen Lehrern, an der er beteiligt gewesen sein will, ist selbst nach seinen Einlassungen abgebrochen und nicht durchgeführt worden), hätte es auch in diesem Fall bei einem hinreichend konkreten Verdacht ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegeben. Außerdem werden die in Listenform geführten "Datenblätter" breit angelegt. Die Eintragungen geschehen aus allen möglichen Anlässen und ohne Hinweis auf den konkreten Grund. Sie enthalten auch Namen von Verwandten Verdächtiger oder von Zeugen, die wegen ideologischer Straftaten gesucht werden. Damit bleibt als greifbare Tatsache, die dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Schwierigkeiten bereiten kann, allein der Umstand der Eintragung in das Datenblatt als solche und die damit verbundene, auf informellen, nicht gerichtsverwertbaren und in ihrem Belastungsgewicht nicht abschätzbaren Verdachtsmomenten beruhende, von den Provinzsicherheitsbehörden in Tunceli betriebene Fahndung wegen einer Straftat mit terroristischen Hintergrund, an der der Kläger allerdings nicht notwendig als Täter oder Teilnehmer beteiligt gewesen sein muss.

2.1.4.3 Die Auflistung von Personaldaten des Klägers in den polizeilichen Datenblättern birgt die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass er bei der Wiedereinreise zur näheren Aufklärung der Umstände den für politische Straftaten zuständigen Sicherheitsbehörden übergeben wird.

2.1.4.5 Dabei muss der Kläger mit intensiven Verhören rechnen, nicht jedoch mit Übergriffen, die einen Abschiebungsschutz rechtfertigen. Das gilt in gleicher Weise bei einer freiwilligen Rückkehr wie im Falle der Abschiebung.

2.1.4.5.1 Im Falle der Abschiebung ist die Gefahr einer Misshandlung bei der Rückkehr in die Türkei auf Grund von vor der Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre äußerst unwahrscheinlich. Seit fast vier Jahren ist kein Fall mehr bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurück gekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 3. Mai 2005, Stand Februar 2005, 508-516.80/3 TUR).

2.1.4.5.2 Im Ergebnis das gleiche gilt, wenn der Kläger nicht sofort bei der Einreise, sondern später, bei irgendwelchen Kontakten mit der Polizei, mit der Eintragung in das Datenblatt konfrontiert wird.

Über die Wahrscheinlichkeit in diesem Fall bis zur Folter misshandelt zu werden, lässt sich derzeit allerdings nur schwer eine gesicherte Prognose treffen. Nach Auffassung des OVG NRW kommt es zwar einerseits nach wie vor häufig zu Misshandlungen und Folter durch die Sicherheitskräfte, vor allem durch die Polizei; es bestehe ein hohes Risiko, Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden für eine Person, die ins Blickfeld der Sicherheitskräfte gerät, vor allem im Vorfeld eines etwaigen Strafverfahrens (OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005, 8 A 273/04.A, Seite 47,48), wobei sich die Misshandlungsmethoden jedoch tendenziell abmildern; Folter sei weiterhin ein Bestandteil der Methodik der türkischen Sicherheitskräfte und werde als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses oder einer belastenden Aussage gegen Dritte eingesetzt (Seite 53); nehme die Häufigkeit physischer Misshandlungen in förmlicher Polizeihaft ab, finde sie eher in Polizeiwagen und bei Durchsuchungen Anwendung (Seite 54). Andererseits, so das OVG NRW (a.a.O., Seite 51), hänge die Wahrscheinlichkeit, ob ein in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geratener Verdächtiger mit Folter und sonstigen Menschenrechtsverletzungen rechnen muss und in welcher Weise er gegebenenfalls misshandelt wird, davon ab, wie weit die jüngsten gesetzlichen Reformen im Zuge der "Null-Toleranz" Politik gegen Folter vor Ort von den jeweils handelnden Amtswaltern schon umgesetzt werden, wobei festzustellen sei, dass gerade die bislang besonders gefürchtete Terroreinheit in Istanbul, möglicherweise auf Grund eines höheren Ausbildungsstandes, Verhöre immer häufiger ohne Anwendung physischer Gewalt durchführt. Das Auswärtige Amt verneint für die Gegenwart systematische Folter, stellt fest, dass die Zahl der bekannt gewordenen Folter- und Misshandlungsfälle deutlich zurückgeht und hält bei der Beurteilung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit derartiger Übergriffe bei Rückkehr in die Türkei einen besonders strengen Prüfungsmaßstab für angezeigt (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 3. Mai 2005, Stand Februar 2005, 508-516.80/3 TUR); zudem sei die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen bei Straftaten mit politischem Hintergrund nicht höher als bei Straftaten mit kriminellem Hintergrund (Auskunft an das VG Freiburg vom 28. Mai 2005, was allerdings unter den verschiedenen, die Verhältnisse in der Türkei beobachtenden Auskunftspersonen- und Stellen umstritten ist). Den Grund für die veränderten Verhältnisse sieht das Auswärtige Amt unter anderem in der gesetzlichen Verkürzung der Polizeihaft, der Gewährleistung frühzeitigen Kontaktes zu einem Rechtsanwalt und der Anordnung ärztlicher Untersuchungen vor Beginn einer Vernehmung und bei der Entlassung aus dem Polizeigewahrsam.

Aus der im Fluss befindlichen Erkenntnislage lassen sich für den Einzelfall folgende Richtpunkte gewinnen: Die Wahrscheinlichkeit, bei einer polizeilichen Festnahme im Zusammenhang mit Ermittlungen zu einer politischen Straftat mit terroristischem Hintergrund misshandelt zu werden, hängt vom Ausbildungsstand und vom Umfeld der jeweils ermittelnden Polizeibeamten einerseits und vom Gewicht des Erkenntnisinteresses ab. Je dringender die vorhandenen Verdachtsmomente der Aufklärung bedürfen und je wahrscheinlicher es ist, dass der in die Fänge Geratene Auskunft geben kann, desto eher werden die Sicherheitskräfte, auch wenn sie schon belehrt und geschult sind, geneigt sein die gesetzlichen Reformen zu vergessen, in "bewährte" Praktiken zurück zu fallen und entsprechend rücksichtslos vorzugehen.