VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 15.06.2005 - 6 K 2027/03.A - asyl.net: M7114
https://www.asyl.net/rsdb/M7114
Leitsatz:

Keine unmittelbare oder mittelbare Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan; keine hinreichende Sicherheit für vorverfolgt ausgereiste Ahmadis; die Qualifikationsrichtlinie ist noch nicht auf deutsches Recht anwendbar; Schutz vor Verfolgung wegen der Religion nur bei Verletzung des "religiösen Existenzminimums".

 

Schlagwörter: Pakistan, religiös motivierte Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, religiöses Existenzminimum, Verfolgungsbegriff, Ahmadiyya, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Blasphemie, mittelbare Verfolgung, Situation bei Rückkehr
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1b; PPC Art. 298 C; PPC Art. 295 C
Auszüge:

Keine unmittelbare oder mittelbare Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan; keine hinreichende Sicherheit für vorverfolgt ausgereiste Ahmadis; die Qualifikationsrichtlinie ist noch nicht auf deutsches Recht anwendbar; Schutz vor Verfolgung wegen der Religion nur bei Verletzung des "religiösen Existenzminimums".

(Leitsatz der Redaktion)

 

Doch auch unabhängig davon haben die Kläger nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung -vgl. § 77 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG)- weder Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte noch Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungendes § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufentG).

Eingriffe, die eine ungestörte Religionsausübung auch im privaten Bereich, im häuslichen Gottesdienst oder im Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten unterbinden, stellen deshalb politische Verfolgung dar, unabhängig davon, ob sie als generelle staatliche Verbots- oder Strafnormen oder als gezielte Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit oder Freiheit der Betroffenen im Einzelfall ausgestaltet sind. Wenn hingegen - insbesondere in einem von einer Staatsreligion geprägten StaatMaßnahmen lediglich der Durchsetzung des öffentlichen Friedens dienen, etwa indem sie die öffentlich bemerkbare Ausübung einer der Staatsreligion widersprechenden Religion unterbinden oder behindern, so stellt dies noch keine politische Verfolgung dar, weil das religiöse Existenzminimum dadurch noch nicht berührt wird (vgl. neben den zuvor genannten noch BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990 -9 C 60.89-, BVerwGE 87, 52).

Der demgegenüber vom Prozessbevollmächtigten der Kläger in Paralleleverfahren vorgetragenen Auffassung, die Rechtslage habe sich durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 erheblich zu Gunsten der Flüchtlinge geändert, deren Fluchtgründe in der Religionsausübung wurzelten, weil der nunmehr in Kraft getretene § 60 Abs. 1 AufentHG eine nationale Umsetzung des Art. 10 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union vom 29. April 2004 (Amtsblatt der Europäischen Union L 304/12 ff.) - sogenannte "Qualifikationsrichtlinie" - darstelle, deren Schutzbereich auch die Glaubensausübung im "öffentlichen Raum" umfasse, kann nicht gefolgt werden. Denn die Qualifikationsrichtlinie bedarf noch der Umsetzung in nationales deutsches Recht.; die Frist hierzu läuft erst im Oktober 2006 ab, vgl. Art. 38 der Qualifikationsrichtlinie. Bis dahin besteht noch kein Anwendungsvorrang der Qualifikationsrichtlinie im Hinblick auf anderslautendendes nationales Recht, und ist es bis dahin auch noch nicht geboten, den Begriff der Religion in § 60 Abs. 1 AufentHG im Lichte der Qualifikationsrichtlinie auszulegen (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 12. Mai 2005 -Az. A 3 S 358/05-, sowie OVG Münster, Beschluss vom 18. Mai 2005 - Az. 11 A S 533/05-, nachgewiesen in juris).

Allerdings geht das Gericht im Einklang mit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) und der Rechtsprechung anderer Ober- und erstinstanzlicher Gerichte davon aus, dass aktive (bekennende) Ahmadis, die Pakistan als politisch Verfolgte verlassen haben, im Falle der Rückkehr derzeit vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher wären (vgl. OVG NRW in ständiger Rechtsprechung: Beschluss vom 06. Dezember 1995 -19 A 10214/90-; Beschluss vom 5. August 1994 -19 A 1912/92.A-; Urteil vom 30. März 1994 -19 A 10021/95-; bestätigt durch Beschlüsse vom 8. Juli 1998 und 19. August 1998 -19 A 5631/97.A und 19 A 3756/98.A-; OVG Koblenz, Urteil vom 4. November 1997 -6 A 12234/96.0VG-; VG Köln, Urteil vom 2. September 1997 -2 K 4692/97.A-; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Mai 1998 -14 K 9291/94.A-; VG Karlsruhe, Urteil vom 04. November 1998 -A 10 K 14459/95-; VG Lüneburg, Urteil vom 5. November 1998 -l A 549/97-).

Die Kläger sind jedoch nicht unter dem Druck eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung aus Pakistan ausgereist, sodass der sogenannte "herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab", der die Schwelle für die Unzumutbarkeit einer Rückkehr in das Heimatland zugunsten Vorverfolgter herabsenkt, in ihrem Fall nicht anzuwenden ist.

Zwar geht das Gericht vor allem wegen der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes als sicher davon aus, dass die Kläger Mitglieder der Ahmadiyya- Glaubensgemeinschaft sind. Ihnen kann jedoch nicht geglaubt werden, dass sie Pakistan wegen erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung - also vorverfolgt - verlassen haben.

Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, schon wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft politisch verfolgt zu sein. Denn eine -landesweite- asylrelevante Gruppenverfolgung aller Ahmadis fand zum Zeitpunkt ihrer Ausreise nicht statt. Sie findet auch derzeit nicht statt. Die gegen ihre Glaubensbetätigung gerichteten staatlichen Maßnahmen - meist in Form von Strafverfolgung nach den Vorschriften section 298 A bis C und section 295 C des pakistanischen Strafgesetzbuchs (Pakistan Penal Code - PPC)- sowie die nach den Ereignissen von 1974 erfolgten Überfälle und Angriffe von orthodoxen Moslems rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan (vgl. ebenso VGH BW, Urteil vom 24.11.2000 - A 6 S 672/99 -, ESVGH 51, 120 -; Beschluß vom 13.03.2000 - A 6 S 2607/98 -; OVG Bremen, Beschluß vom 14.09.1999 - 1 A 34/99.A -; OVG Hamburg, Beschluß vom 02.03.1999 - OVG Bf IV 13/95 -; Hess. VGH, Urteil vom 28.12.1999 - 10 UE 1453/98.A -; Beschluß vom 06.09.2000 - 2 UZ 2091/00.A -; OVG NRW, Beschlüsse vom 10. September 2002 -19 A 2813/01.A-; vom 15. April 2002 -19 A 760/01.A-; vom 15.02.2002 -19 A 4727/00.A-; vom 10.01.2002 - 19 A 33/02.A -; vom 12.04.2001 - 19 A 1230/01.A -; vom 04.01.2001 - 19 A 5781/00.A -; OVG des Saarlandes, Beschluß vom 15.03.2002 -9 Q 59/01-; VG Düsseldorf, Urteil vom 06.02.2001 - 14 K 8398/00.A -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02.04.2001 - 11a K 23/96.A -; VG Hannover, Urteil vom 11.04.2001 - 5 A 2923/99 -; VG Saarlouis, Urteil vom 25.04.2001 - 4 K 259/00.A -). ...