VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.09.2005 - 11 S 2165/04 - asyl.net: M7143
https://www.asyl.net/rsdb/M7143
Leitsatz:

Der Nachweis des Alters eines Ausländers unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung; keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, die für den Nachweis nur die Vorlage amtlicher Dokumente genügen lässt; ob die Ausländerbehörde ein fiktives Geburtsdatum in amtliche Dokumente (hier: Duldung) eintragen darf, ist eine Frage des Einzelfalles.

 

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, ernstliche Zweifel, Verfahrensmangel, grundsätzliche Bedeutung, Altersfeststellung, Geburtsdatum, Fiktives Geburtsdatum, Identitätszweifel, Beweiswürdigung, Beweisantrag, rechtliches Gehör, Zeugen, Rechtsgrundlage
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3
Auszüge:

Der Nachweis des Alters eines Ausländers unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung; keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, die für den Nachweis nur die Vorlage amtlicher Dokumente genügen lässt; ob die Ausländerbehörde ein fiktives Geburtsdatum in amtliche Dokumente (hier: Duldung) eintragen darf, ist eine Frage des Einzelfalles.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1 . Die Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfordert, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine dafür erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 130/00 -, VBIBW 2000, 392 = NVwZ 2000, 1163). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen des Klägers nicht.

Wie der Kläger selbst vorträgt, entscheidet das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gericht ist verpflichtet, sich eine Überzeugung zu bilden und darf sich nicht mit einem geringeren Grad der Gewissheit zufrieden geben. Es muss von der Wahrheit eines Vorbringens und nicht von dessen - wie hoch auch immer veranschlagten - Wahrscheinlichkeit überzeugt sein, auch wenn der Ermittlung tatsächliche Grenzen gesetzt sind (vgl. grundsätzlich dazu etwa Kuntze in Bader u.a., VwGO, 3. Aufl., § 108 Rn. 8). Der Kläger hat nicht dargelegt, dass nach diesen Maßgaben der Ansatz des Verwaltungsgerichts, die bloße Angabe des Geburtsjahres durch den Kläger reiche ohne Vorlage weiterer amtlicher Dokumente in tatsächlicher Hinsicht nicht aus, das Gericht von dessen Richtigkeit zu überzeugen und einen Anspruch auf Eintragung dieses Geburtsjahres in ein amtliches Dokument zu begründen, den Rahmen zulässiger Oberzeugungsbildung sprengt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger nach seinem Vorbringen von dem Dokument zum Nachweis seines Geburtsjahres im Rechtsverkehr Gebrauch machen will; denn anders ist sein Vortrag, die Eintragung des Geburtsjahres habe für ihn bei behördlichen Maßnahmen erhebliche Konsequenzen, nicht zu verstehen. Der Kläger hat auch nicht dargelegt, dass im vorliegenden Fall das materielle Recht ausnahmsweise eine bloße Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit des Vorbringens genügen lasse (vgl. dazu Kuntze in Bader u.a., a.a.O., § 108 Rn. 8) oder es ausreiche, dass seine Altersangabe "nicht offensichtlich zweifelhaft" sei. Die weitere Erwägung des Verwaltungsgerichts, nach seinen Erkenntnissen sei eine exakte Altersfeststellung noch nicht einmal einem Facharzt möglich und selbst eine fundierte Altersschätzung durch einen Facharzt sei mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, so dass (auch) daher der Nachweis eines bestimmten Geburtsjahres nur durch Vorlage amtlicher Dokumente erfolgen könne, wird vom Kläger nicht mit beachtlichen Gegenargumenten in Frage gestellt. Dass das Verwaltungsgericht bei der Würdigung der ermittelten Tatsachen gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Auslegungsregeln verstoßen hätte, hat der Kläger nicht vorgetragen. Der Kläger hat schließlich auch nicht substantiiert dargelegt, dass Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils deshalb bestünden, weil ihm (entgegen den Feststellungen des Senats in seinem Beschluss vom 19.04.2004 - 11 S 2242/03 - ) die Vorlage amtlicher Dokumente unmöglich sei und deshalb die strengen Nachweiserfordernisse nicht gerechtfertigt seien.

2. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (Verfahrensmangel) ist ebenfalls nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.

b) Mit der Behauptung, das Gericht habe den hilfsweise gestellten Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt, ist der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht hinreichend dargelegt.

Fraglich ist bereits, ob der Kläger mit seinem Beweisantrag überhaupt eine für das Verwaltungsgericht entscheidungserhebliche Behauptung unter Beweis gestellt hat, da die Zeugen - nur - bekunden sollten, dass das vom Kläger genannte Geburtsdatum "sehr wahrscheinlich" sei, was jedoch nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, bezüglich derer ernstliche Zweifel nicht mit Erfolg geltend gemacht worden sind, gerade nicht ausreichend ist. Jedenfalls hat der Kläger die Tauglichkeit des Beweismittels zum Beweis der für das Verwaltungsgericht allein entscheidungserheblichen Behauptung, dass der Kläger im Jahr 1987 geboren ist, nicht substantiiert dargelegt. Es dürfte bereits sicherer Lebenserfahrung (vgl. dazu Pfeifer, StPO, 5. Aufl., § 244 Rn. 30) entsprechen, dass es für einem Laien, der den Betroffenen erst seit wenigen Jahren kennt, nicht möglich ist, dessen konkretes Geburtsjahr festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat sich darüber hinaus auf seine gerichtlichen Erkenntnisse (etwa im Parallelverfahren 2 K 1111/03 bzw. dem zugehörigen Asylverfahren A 2 K 10347/01) bezogen, wonach es selbst einem Facharzt nicht möglich ist, eine präzise Altersbestimmung vorzunehmen. Dass danach die rechtliche Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts, ein Erfolg der Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung erscheine von vornherein ausgeschlossen (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG Beschluss vom 22.09.1992 - 7 B 40/92 -, NVwZ 1993, 377 ff.) keine Stütze im Prozessrecht findet, wird vom Kläger nicht substantiiert dargelegt.

II. Der allein auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) gestützte Berufungszulassungsantrag des Beklagten bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

b) Streitgegenstand eines Berufungsverfahrens wäre allein die Frage, ob im Falle des Klägers, der bisher keinerlei Identifikationspapiere vorgelegt hat, die Obernahme des seinerzeit nach der Einreise des Klägers von einem Mitarbeiter der Erstaufnahmeeinrichtung in Hamburg festgesetzten - fiktiven Geburtsdatums 11.06.1985 in dessen nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens erteilte Duldung zulässig ist oder ob dies einen Eingriff in Rechte des Klägers darstellt, für den es an einer Rechtsgrundlage fehlt. In diesem Berufungsverfahren wäre dagegen nicht zu klären, "ob und unter welchen Voraussetzungen von der Behörde festgesetzte Geburtsdaten in amtliche Dokumente (hier Duldung) eingetragen werden dürfen".

Ob im vorliegenden Fall durch die Eintragung eines von der Behörde festgesetzten Geburtsdatums in Rechte des Klägers eingegriffen wird, bedarf einer Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung der Besonderheiten des konkreten Falles. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die auch vom Verwaltungsgericht zitierte Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshofs, wonach eine abweichende Angabe persönlicher Daten in amtlichen Papieren zu einem Grundrechtseingriff nur unter der Voraussetzung führt, dass darin eine Missachtung der Identität und Individualität zu erblicken ist (Urteil vom 29.08.1990 - 1 S 2648/89 -, ESVGH 41, 55 ff. m.w.N.). Bei dieser wertenden Betrachtung wäre zu berücksichtigen, in welchem konkreten Zusammenhang, aus welchen Gründen und auf weicher Grundlage die Behörde das Geburtsdatum festgesetzt hat, ob die eigenen Angaben des Ausländers zu seinen persönlichen Daten offenkundig falsch bzw. seine Angaben ggf. insgesamt unglaubwürdig waren, ob er seinen Mitwirkungspflichten aus § 15 AsylVfG und § 70 AuslG (bzw. §§ 48 Abs. 3, 49 AufenthG) nachgekommen und in zumutbarer Weise an der Beschaffung eigener Identitätspapiere mitgewirkt hat (was beim Kläger nicht der Fall sein dürfte, vgl. Beschluss des Senats vom 19.04.2004, a.a.O.) und welches öffentliche Interesse schließlich an der Beibehaltung des festgesetzten Geburtsdatums besteht. Relevant für die Beurteilung der schützenswerten Belange des Ausländers dürfte auch sein, ob das Geburtsdatum in eine Duldung eingetragen wird, die ihm nur zum Nachweis der Aussetzung der Abschiebung dient, oder er mit der Duldung mangels anderweitiger Personaldokumente auch seiner Ausweispflicht genügt (vgl. § 48 Abs. 2 AufenthG bzw. §39 Abs. 1 AuslG), was wiederum nur zulässig ist, wenn er einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann. Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, würde die vom Kläger erhoffte Klärung der von ihm aufgeworfenen Rechtsfrage mit über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung nicht erfolgen.