VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 18.08.2005 - M 9 K 04.50942 - asyl.net: M7213
https://www.asyl.net/rsdb/M7213
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung für irakischen Staatsangehörigen, da kein ausreichender staatlicher Schutz besteht.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Schutzfähigkeit, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Genfer Flüchtlingskonvention, UNHCR, Sicherheitslage, Kriminalität, Terrorismus, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; GFK Art. 1 C Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung für irakischen Staatsangehörigen, da kein ausreichender staatlicher Schutz besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage hat Erfolg, der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 1 C Abs. 5 GK.

2. In zahlreichen Entscheidungen hat neben dem erkennenden Gericht auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die seit geraumer Zeit von der Beklagten reihenweise ergangenen Widerrufe der Feststellungen zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bei irakischen Staatsangehörigen für rechtmäßig erachtet. Insbesondere nach den jüngsten Entwicklungen der Lage im Irak kann daran nicht mehr festgehalten werden.

3. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist der gerichtlichen Beurteilung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung zugrundezulegen (vgl. - zuletzt - BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, 1 C 29/03, unter 1. a) der Entscheidungsgründe).

3.1. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der seit 1. Januar 2005 geltenden Fassung lautet:

"Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen."

§ 60 Abs. 1 Satz 1 - Verbot der Abschiebung - des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes hat folgenden Wortlaut:

"In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen

Überzeugung bedroht ist."

Mit dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf die Genfer Konvention hat der Bundesgesetzgeber die Identität des materiellen Gehalts der Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit den Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention betont und festgeschrieben.

3.3. UNHCR hat als Hilfsmittel zur Auslegung des Art. 1 C (5) und (6) der Genfer Konvention zuletzt im Jahr 2003 Richtlinien herausgegeben (NVwZ-Beilage I 8/2003, S. 57). Wenn auch diese Richtlinien in den Vertragsstaaten keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit beanspruchen können (zur - ggf. unterschiedlichen - Auslegung der GK in den Unterzeichnerstaaten vgl. BVerwG, Urteil vom 18.01.1994, E 95, 42, 48 f.), so enthalten sie gleichwohl wichtige Hinweise für die Auslegung. Danach müssen die Änderungen im Heimatstaat grundlegend (a.a.O. RdNrn. 10 und 11) und dauerhaft sein (a.a.O. RdNrn. 13 und 14). Ferner muss im Herkunftsland wirksamer Schutz wiederhergestellt sein, insbesondere muss dieser auch verfügbar sein, erforderlich ist das Vorhandensein einer funktionierenden Regierung, grundlegender Verwaltungsstrukturen und einer angemessenen Infrastruktur (a.a.O. RdNr. 15). Mit anderen Worten: Der humanitäre Grundgedanke der Schutzgewährung erlaubt die Beendigung eines entsprechenden Status im Aufnahmeland erst, wenn im Herkunftsland des Flüchtlings wenigstens im Wesentlichen eine verlässliche neue Ordnung eingekehrt ist und die Regierenden - unter Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards - auch tatsächlich in der Lage sind, Ruhe und Ordnung im Land aufrecht zu erhalten.

4. Aufgrund der Umstände, die vor allem im letzten halben Jahr aus dem Irak bekannt geworden sind, kann es für als Flüchtlinge anerkannte irakische Staatsangehörige derzeit nicht als zumutbar angesehen werden, sich dem Schutz des Heimatlandes zu unterstellen.

4.1. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10. Juni 2005 (508-516.80/3 IRQ) geht von einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage im Irak aus (S. 4 sowie vor allem S. 10 bis 14 - unter II. 1. bis 3.).

Die allgemeine Kriminalität ist danach nach dem Sturz des früheren Regimes stark angestiegen und mancherorts weiterhin außer Kontrolle. Eine Verfolgung von einzelnen Straftaten findet so gut wie nicht statt (S. 10 unter II. Asylrelevante Tatsachen 1. Sicherheitslage).

4.2. Neben vielen anderen Printmedien widmete der Spiegel in seiner Ausgabe Nr. 30 vom 25. Juli 2005 unter dem Titel "Die Saat des Bösen" der aktuellen Lage im Irak eine umfangreiche Darstellung (S. 88 bis 92).

Das Pentagon habe danach beispielsweise jüngst eingeräumt, dass die Hälfte der 93.800 irakischen Polizisten kaum über ihre Grundausbildung hinaus gelangt sei und für reguläre Einsätze nicht in Frage komme. Die andere Hälfte sowie zwei Drittel der 78.800 neuen Soldaten sei nur in Zusammenarbeit mit der US-Armee "teilweise einsatzfähig". Blieben rechnerisch etwa 26.000 Soldaten für den selbständigen Kampf gegen den Terror - das seien etwa 6.000 mehr als die 20.000 Aufständischen, von denen Washington derzeit ausgehe.

4.3. Die Richtigkeit der unter 4.1. und 4.2. referierten Einschätzungen bestätigt im Ergebnis auch die seit Ende 2003 unverändert fortbestehende Abschiebestopp-Erlasslage. Ging man im Dezember 2003 (IMS vom 18.12.2003 - I A 2 - 2084.20-13) noch davon aus, dass der entgegenstehende Wille der Besatzungsmächte aus tatsächlichen Gründen zwangsweise Rückführungen hindere (a.a.O. S. 2 Mitte), so konterkariert beispielsweise die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25. Januar 2005 an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach diese Mutmaßung deutlich. Dort bringt das Auswärtige Amt unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich die Sicherheitsbedingungen ständig verschlechtert haben und aus sachlich zwingenden Gründen durch die Deutsche Botschaft in Bagdad bis auf weiteres keine Amtshilfeersuchen bearbeitet werden. Dementsprechend gibt es nach wie vor auch keine zu Gunsten eines Rückführungskonzepts sprechende Lagebeurteilung durch den Bund (vgl. Nr. 3 des IMK-Beschlusses vom 20./21.11.2003), vielmehr bleibt es auf nicht absehbare Zeit beim faktischen Abschiebestopp (IMS a.a.O. S. 2 unten). Bereits unter dem 30. April 2004 hat das Bayerische Staatsministerium des Innern im Nachgang zum Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 denn auch ergänzend mitgeteilt, dass die gegenwärtige Lage Rückführungen nach wie vor nicht zulasse.