OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 21.06.2005 - 11 LB 256/02 - asyl.net: M7260
https://www.asyl.net/rsdb/M7260
Leitsatz:

Syrisch-orthodoxe Christen aus dem ländlichen Gebiet im Südosten der Türkei , die die Türkei im Dezember 2001 verlassen haben, unterlagen zu dieser Zeit nicht mehr einer örtlich begrenzten mittelbaren Gruppenverfolgung.

Eine Rückkehr in die Türkei ist ihnen auch derzeit zumutbar. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung; sie sind vielmehr (sogar) hinreichend sicher vor politischer Verfolgung (Änderung der Rechtsprechung des Senats vgl. z.B Urt. v. 29.6.1998 - 11 L 5510/97 u.v. 16.5.2000 - 11 L 4089/99).

 

Schlagwörter: Türkei, Christen (syrisch-orthodoxe), Gruppenverfolgung, Situation bei Rückkehr, Mardin, Politische Entwicklung, religiös motivierte Verfolgung, mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Syrisch-orthodoxe Christen aus dem ländlichen Gebiet im Südosten der Türkei , die die Türkei im Dezember 2001 verlassen haben, unterlagen zu dieser Zeit nicht mehr einer örtlich begrenzten mittelbaren Gruppenverfolgung.

Eine Rückkehr in die Türkei ist ihnen auch derzeit zumutbar. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung; sie sind vielmehr (sogar) hinreichend sicher vor politischer Verfolgung (Änderung der Rechtsprechung des Senats vgl. z.B Urt. v. 29.6.1998 - 11 L 5510/97 u.v. 16.5.2000 - 11 L 4089/99).

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Kläger sind nicht als Asylberechtigte im Sinne des Art. 16 a GG anzuerkennen.

Bei den Klägern handelt es sich zur Überzeugung des Gerichts um syrisch-orthodoxe Christen aus der Türkei, und zwar aus dem Dorf Antili (früher: Hah), Kreis Midyat, Provinz Mardin, im Südosten der Türkei.

Im Zeitpunkt der Ausreise ­ Dezember 2001 ­ unterlagen die Kläger auch keiner Gruppenverfolgung.

Allerdings hat der Senat in früheren Verfahren, zuletzt mit Urteil vom 16.5.2000 ­ 11 L 4089/99 - unter Auswertung der zu jenem Zeitpunkt vorhandenen Erkenntnismittel die Auffassung vertreten, dass die syrisch-orthodoxen Christen seit etwa Frühjahr 1993 von einer mittelbaren Gruppenverfolgung in ihrem angestammten Siedlungsgebiet im Südosten der Türkei, insbesondere im Tur Abdin, betroffen waren. Im Anschluss an die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat der Senat jene Verfolgung als sog. "örtlich begrenzte Gruppenverfolgung" eingestuft (vgl. Urt. v. 18.6.1996 -­ 11 L 7836/95 -­, v. 29.6.1998 ­- 11 L 5510/97 -­ u. v. 28.8.1998 ­- 11 L 155/98 -).

Auf die Rechtsprechung des Senats zur Gruppenverfolgung könnten sie sich mit Erfolg allerdings nur dann berufen, wenn auch im Zeitpunkt ihrer Ausreise ­ Dezember 2001 ­ noch weiterhin von einer örtlich begrenzten Verfolgung der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei, insbesondere im Gebiet des Tur Abdin, auszugehen ist.

Von einer örtlich begrenzten mittelbaren Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen im ländlichen Südosten der Türkei auch noch im Dezember 2001 ist nicht auszugehen.

Den Klägern ist es auch derzeit zumutbar, zurückzukehren, da sich die allgemeine politische Situation und damit auch die Lage der Christen im Südosten der Türkei weiter entspannt hat. Es besteht derzeit keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung bei Rückkehr. Rückkehrende syrisch-orthodoxe Christen sind nach Einschätzung des Senats vielmehr hinreichend sicher vor politischer Verfolgung. Hierzu im Einzelnen: ...

Entsprechend wurde schon im EU-Fortschrittsbericht vom 5. November 2003 (zitiert im Lagebericht AA v. 19.5.2004, S. 18) festgehalten, dass nicht-muslimische religiöse Minderheiten weiterhin vor "ernsten Hindernissen im Hinblick auf ihre Persönlichkeit, Eigentumsrechte, ihre interne Verwaltung und das Verbot der Ausbildung von Geistlichen" stünden.

Diese bürokratischen Hemmnisse werden von den christlichen Gemeinden um so stärker empfunden, als die sunnitischen islamischen Einrichtungen vom türkischen Staat gefördert werden. Zuständig hierfür ist das Amt für religiöse Angelegenheiten ("Diyanet") (vgl. Die Welt vom 21.11.2004). Es verfügt im Jahr 2005 über fast 90.000 Mitarbeiter und über ein Budget von rd. 590 Millionen Euro. Diesem Amt obliegt die Ernennung und Überwachung der Vorbeter sowie Bau und Unterhalt der Moscheen. Unterstützt wird durch dieses Amt ausschließlich der sunnitische Islam (Lagebericht des AA v. 3.5.2005, S. 16).

Allein administrative Hemmnisse rechtfertigen allerdings nicht die Bejahung einer politischen Verfolgung, da sie die Glaubensbetätigung als solche in ihrem Kernbereich nicht tangieren. Ebenso ist nicht als politische Verfolgung zu werten, dass Christen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit praktisch keinen Zugang für die Justiz-, Lehrer-, Polizei- oder Offizierslaufbahn haben. Da die Türkei zu weit mehr als 90 % von Muslimen bewohnt wird, kann die Zielrichtung der politischen Gremien, für das Funktionieren des Staates wesentliche Berufsfelder mit Muslimen zu besetzen, unter asylrechtlichen Gesichtspunkten nicht beanstandet werden (vgl. hierzu auch Urt. d. Sen. v. 24.10.1990 ­- 11 L 95/89 -­ zu syrisch-orthodoxen Christen u. v. 28.8.2003 ­ 11 LB 2/03 ­ zu armenischen Christen

in der Türkei).

Eine aus Gründen der Religion stattfindende Verfolgung ist nur dann asylerheblich, wenn die Beeinträchtigung der Freiheit der religiösen Betätigung nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzt. Es muss sich um Maßnahmen handeln, die den Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeiten ähnlich schwer treffen wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit (BVerwG, Urt. v. 18.2.1986 ­- 9 C 16.85 -; BVerwGE 74, 31), indem sie ihn physisch vernichten, mit vergleichbar schweren Sanktionen bedrohen, seiner religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben im privaten Bereich durch Gebete und Gottesdienste zu bekennen (BVerfG, Beschl. v. 1.7.199´87 ­- 2 BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143, 158; Beschl. v. 10.11.1989 -­ 2 BvR 403/84 u.a. -, BVerfGE 81, 58; BVerwG, Urt. v. 29.8.1995 ­- 9 C 2.95 -; Urt. d. Sen. v. 28.8.2003 -­ 11 LB 2/03 -­ zu armenischen Christen).

Vor einer derartigen Verfolgung sind die Christen nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel jedoch derzeit hinreichend sicher. Dieses gilt auch, obgleich Mitte 2004 Kämpfe zwischen der PKK und dem türkischen Militär im Südosten der Türkei wieder aufgeflammt sind (vgl. Dr. Oehring, St. v. 3.10.2004 an OVG Lüneburg, S. 6; NZZ v. 3.7.2004, FAZ v. 20.7.2004; FR v. 20.5.1005: PKK droht mit Terror in den Städten; aber FR v. 3.6.2005: "PKK zur Waffenruhe bereit").

Berichte über auf eine (mittelbare) Gruppenverfolgung hindeutende Übergriffe auf Christen sind in den aktuellen Erkenntnismitteln nicht enthalten. Soweit von Übergriffen berichtet wird, handelt es sich nur um vereinzelte Fälle, die die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht tragen.

Die aufgezeigte Entwicklung lässt es trotz aller nach wie vor bestehenden und nicht zu unterschätzenden erheblichen administrativen Erschwerungen im Leben der Christen in der Türkei als hinreichend sicher erscheinen, dass Christen in der Türkei zurzeit ihren Glauben zumindest in seinem eigentlichen Kernbereich ungehindert ausüben können und dass sie auch keinen über die administrativen Beeinträchtigungen hinausgehenden Drangsalierungen ihrer kurdischen/türkischen Mitbewohner ausgesetzt sind. Eine Rückkehr in die Türkei ist den Klägern daher zumutbar (vgl. ebenso VG Wiesbaden, Urt. v. 12.5.2003 -­ 6 G 1/02 -, die dagegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde ist vom Hess.VGH mangels zureichender Darlegung von Zulassungsgründen zurückgewiesen worden; Hess.VGH, Beschl. v. 24.5.2004 -­ 6 ZU 1470/03 -; OVG Schl.-H., Urt. v. 29.4.2004 ­ 4 LB 101/02 -).