VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 22.09.2005 - 1 A 32/02 - asyl.net: M7271
https://www.asyl.net/rsdb/M7271
Leitsatz:

Lagebericht des Auswärtigen Amtes genügt nicht zur Beurteilung der aktuellen Entwicklung in Vietnam, da aktuelle Berichte von anderen Organisationen nicht berücksichtigt wurden und Deutschland nach Auskunft des Auswärtigen Amtes enge Beziehungen zu Vietnam pflegt; Flüchtlingsanerkennung wegen einfacher exilpolitischer Betätigung und buddhistischen Glaubens.

 

Schlagwörter: Vietnam, Folgeantrag, Neue Beweismittel, Änderung der Sachlage, Änderung der Auskunftslage, begründete Furcht, Flüchtlingsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, subjektive Nachfluchtgründe, objektive Nachfluchtgründe, Buddhisten, religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, exilpolitische Betätigung, Internet, Verein der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V., Lageberichte, Auswärtiges Amt, Oppositionelle, politische Überzeugung, Demonstrationen, Überwachung im Aufnahmeland, Administrativhaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4; AsylVfG § 28 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 2; AsylVfG § 28 Abs. 2; R: 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1e
Auszüge:

Lagebericht des Auswärtigen Amtes genügt nicht zur Beurteilung der aktuellen Entwicklung in Vietnam, da aktuelle Berichte von anderen Organisationen nicht berücksichtigt wurden und Deutschland nach Auskunft des Auswärtigen Amtes enge Beziehungen zu Vietnam pflegt; Flüchtlingsanerkennung wegen einfacher exilpolitischer Betätigung und buddhistischen Glaubens.

(Leitsatz der Redaktion)

 

2. Das Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung ist lediglich ein glaubhafter und substantiierter Vortrag, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergeben können muss (HambOVG, NVwZ 1985, 512: "gute Möglichkeit einer Asylanerkennung"; h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. BayVGH, aaO, m.w.N.; VGH Baden-Württ., Urt. v. 16.3. 2000, AuAS 2000, 152 f.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; Renner, aaO. § 71 AsylVfG Rn. 24; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234; 44, 338; 77, 325; BGH NJW 1982, 2128; OVG Münster DÖV 1984, 901; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217). Für ein Wiederaufgreifen bedarf es nicht zugleich auch irgendeines Beweises. Noch weniger kann in dieser 1. Stufe mit seiner bloßen Anstoßfunktion (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1) verlangt werden, dass die Verfolgungsfurcht in der Sache selbst schon nachgewiesen und sachlich geprüft wird (BVerfG, NVwZ 2000, Beilage Nr. 7 S. 78 f.). Das Bundesamt hat lediglich eine Schlüssigkeitsprüfung durchzuführen und - bei schlüssiger Darlegung von Veränderungen - ein weiteres Asylverfahren zu eröffnen und durchzuführen (HessVGH, ESVGH 38, 235). Daher ist es bedeutungslos, ob der neue Vortrag zutrifft, ob die Verfolgungsfurcht begründet und die Annahme einer asylrelevanten Motivierung der Verfolgung gerechtfertigt ist. Alle diese Fragen sind Gegenstand der 2. Stufe des Folge- und Wiederaufnahmeverfahrens. Nur dann, wenn ein Vorbringen von vorneherein nach jeder nur denkbaren Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot iSv § 60 Abs. 1 AufenthG zu verhelfen, kann ein Folgeantrag als unbeachtlich gewertet werden. Eine solche Ausnahme beschränkt sich allerdings auf Einzelfälle, deren fehlende Asylerheblichkeit auf der Hand liegt (BVerfG, DVBl. 1994, 38; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Einzelfall liegt hier nicht vor.

Im Übrigen ist es so, dass neben länderspezifischen (neueren) Einschätzungen und Gutachten sowie tatsächlichen Feststellungen von Gerichten, die als neue Beweismittel iSv § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG gelten (Marx, Kommentar zum AsylVfG, 3. Aufl., § 71 Rdn. 37-39), auch asylrelevante Veränderungen der politischen Verhältnisse und Reaktionen im Heimatland des Asylbewerbers dann als Änderung der Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu berücksichtigen sind, wenn sie erst im Laufe des Verfahrens deutlicher hervorgetreten sind (vgl. Lagebericht des AA v. 12.2.2005 sowie vom 28.8.2005). Zudem war der Kläger als vietnamesischer Staatsbürger im Ausland ohne Verschulden außerstande, sämtliche einschlägigen Tatsachen zu Änderungen in Vietnam rechtzeitig vorzutragen, so dass ihm antragslos Wiedereinsetzung zu gewähren sein dürfte, § 32 Abs. 2 S. 4 VwVfG.

Schließlich hat die Verwaltungsbehörde bei nicht durchgreifenden Gründen iSv § 51 Abs. 1 VwVfG (und damit dem Fehlen eines Anspruchs auf ein Wiederaufgreifen) stets ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege gem. §§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG zu prüfen; bei hinreichend schwerwiegenden Gründen ist sie dazu sogar iSe Ermessenreduzierung verpflichtet (Kopp/Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 8. Aufl. § 51 Rdn. 24 m.w.N.; BVerwGE 111, 77; BVerwG, Beschl. v. 15.1.2001 - 9 B 475.00 -).

Letztlich und vor allem ist aber zu berücksichtigen, dass es um den Kerngehalt asylrechtlichen Schutzes - ein aktuelles Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 1 AufenthG für das Jahr 2005 - geht, mithin eine "möglichst grundrechtsbewahrende Auslegung" geboten ist (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7.Aufl. § 28 AsylVfG Rdn. 7 u. 8 m.w.N.).

4. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückführung in seinen Heimatstaat (§ 13 Abs. 1 AsylVfG) bei prognostischer Einschätzung für den Zeitpunkt September 2005 eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Denn gem. § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat zurückgeführt oder abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung der in den Art. 3, 4, 7 und 8 EMRK genannten Rechtsgüter oder aber der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/ EG v. 29.4.2004; BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Die Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).

Mit § 60 AufenthG hat sich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel weg von der Täter- hin zu einer Opferbetrachtung vollzogen, der sich dem Sinn und Zweck der gen. Richtlinie entsprechend auch inhaltlich auswirkt. Vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.: ...

Soweit § 60 Abs. 1 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland in diesem Sinne "bedroht" ist, lässt er erkennen, dass (nur) eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss. Es muss nicht etwa eine "Sicherheit" dafür gegeben sein. Da inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist, sind heute in Übereinstimmung mit dem gen. Urteil des VG Stuttgart auch deren Standards im Wege der Auslegung beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff), obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (vgl. dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005). Denn "es steht dem Richter frei, im Hinblick auf Art. 10 EG schon ab Inkrafttreten einer Richtlinie insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe des nationalen Rechts bereits - wenn auch ohne Berufung auf den gemeinschaftsspezifischen Anwendungsvorrang und nicht im Gegensatz zu sonstigen nationalen Vorschriften - richtlinienkonform auszulegen (...)" - so VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 -, Asylmagazin 9/2005, S. 28 m.w.N.

Mit dem VG Braunschweig (Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -), dem VG Stuttgart (aaO.) sowie dem VG Karlsruhe (Urt. v. 14.3.2005 - A 2 K 10264/03 -) ist daher davon auszugehen, dass die gen. Richtlinie bereits heranziehbar ist.

Soweit diese Richtlinie in Art. 2 c) und Art. 4 Abs. 4 die subjektive "Furcht des Antragstellers vor Verfolgung" zum Ausgangspunkt nimmt und so in § 60 Abs. 1 AufenthG ein - schon früher in § 51 Abs. 1 AuslG enthaltenes (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. § 51 AuslG Rdn. 4) - subjektives Element trägt, ist es so, dass auch diese Furcht sachlich "begründet" sein muss (Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie). Auch der in der Richtlinie angesprochene subjektive Wille, nicht in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren (Art. 2 c), muss auf eine "begründete Furcht vor Verfolgung" zurückgehen.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen unter Wertungsgesichtspunkten qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).

Ein solches Überwiegen der für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände ist hier gegeben.

4.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Denn hierauf hat der Asylbewerber keinen Einfluss. Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen bis hin zu Repressionen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.

Im Übrigen ist der neu eingefügte § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht nur im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU L 304/12) äußerst einschränkend auszulegen (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 29.6.2005 - 1 A 212/02 - , S. 5 d. Urt.-Abdr., und v. 6.7.2005 - 1 A 4/02 - sowie v. 17.8.2005 - 1 A 233/02 -), sondern auch deshalb, weil er andernfalls mit dem Refoulementverbot des Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) und mit dem - dieses Verbot ausdrücklich umsetzenden - Sinngehalt des § 60 Abs. 1 AufenthG erheblich kollidierte: ...

- so VG Stuttgart, Urt. v. 18.4.2005 - A 11 K 12040/03 - , InfAuslR 2005, S. 345 -

4.2.1 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen, kommt es stets auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage - unter Berücksichtigung der EMRK (§ 60 Abs. 5 AufenthG) und der Richtlinie 2004/83/EG - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland", aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f).

4.2.1.1Für eine solche Gesamtschau reicht es methodisch nicht aus, lediglich die Lageberichte des AA in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die ständig aktualisierte Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der jüngste Lagebericht des AA vom 28.8.2005 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2005 (Vietnam, S. 356) noch denjenigen des US-Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2004 - Vietnam - v. 28. Febr. 2005. Vielmehr werden vom Auswärtigen Amt anstelle der aktuellen Berichte nur die jeweils älteren Berichte des Vorjahres einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 und der IGFM-Jahresbericht 2004 werden weder erwähnt noch verwertet. Es ist fraglich, ob sonstige Pressemitteilungen berücksichtigt sind. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte stark eingeschränkt, da die neuere Entwicklung in Vietnam, wie sie von anderen Seiten berichtet wird, nur - wenn überhaupt - sehr unzureichend wahrgenommen und dargestellt ist.

Somit müssen gerade mit Blick auf die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam und die unzureichende Aussagekraft der Lageberichte des AA auch andere Erkenntnisse - nach Möglichkeit solche aus einer breit gestreuten Vielfalt von Quellen - in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen und ausgewertet werden.

4.2.2 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den neueren Tatsachen, wie sie aus Vietnam von Sachverständigen berichtet werden (s.o.) und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es "unerheblich" sein soll, "ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist."

Gegenüber den Verhältnissen der 90-er Jahre haben sich somit die maßgeblichen Entscheidungskomponenten gerade in den letzten Jahren gravierend verändert - was bei Betrachtung der Nachrichtenlage und der geltenden Vorschriften offenkundig ist.

Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist in diesem Zusammenhang einer verschiedentlich geforderten Tätigkeitsschwelle, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam selbst wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger "breite Öffentlichkeitswirkung" entfalten bzw. einen "nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit" haben: Entscheidend sind allein die Ängste und Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam. Das Regime bekämpft in Vietnam selbst ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung Einzelner mit Härte, ohne hierbei darauf abzustellen, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus vorab eine Breitenwirkung erzielt haben. Das Regime befürchtet, Exilvietnamesen könnten in Vietnam - sind sie erst einmal in ihr Heimatland zurückgekehrt - Gedanken über Demokratie, Freiheit und Pluralismus verbreiten. Deshalb kommt es auf eine Öffentlichkeits- und Breitenwirkung von Deutschland aus gar nicht an. Nicht diese wird vom vietnamesischen Regime gefürchtet, sondern die authentische Vermittlung von Gedanken über Demokratie und Freiheit in Vietnam selbst.

4.2.3 Die dem Kläger als einem "Andersdenkenden" bzw. Dissidenten bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem seine "politische Überzeugung" zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Er ist in Deutschland in vielfacher und mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen und Fotos), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte. Er ist seit vielen Jahren Mitglied des "Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg" und hat sich vor allem für eine Religionsfreiheit engagiert. Er hat an vielen exilpolitischen Tätigkeiten teilgenommen und war bei zahlreichen Demonstrationen dabei. Auf diese Weise ist er den vietnamesischen Sicherheitskräften bekannt, ist er als "Abweichler" und Dissident bereits datentechnisch erfasst und registriert.

4.2.4 Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger aber auch deshalb drohen, weil er buddhistischen Glaubens ist: Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6).

4.2.5 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999).

4.2.6 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden bei der Anwendung des vietStGB und der Befugnis zur administrativen Haft nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8.2005). Es ist dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv "behandelt" , schikaniert, gefoltert oder abgestraft wird. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das nur formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so im Verfahren gegen Pfarrer Ly, vgl. IGFM-Pressemitt. v. 22.10. 2001; so auch der Einzelentscheider-Brief Febr. 1999).