VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 14.06.2005 - 4 K 17/05 - asyl.net: M7291
https://www.asyl.net/rsdb/M7291
Leitsatz:

Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen verstößt trotz Ausschluss des Widerspruchsverfahrens nicht gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG, wenn ein dringender Fall im Sinne dieser Norm vorliegt; das ist der Fall, wenn ein besonderes Interesse am Sofortvollzug der Ausweisung besteht.

 

Schlagwörter: Ausweisung, Ermessensausweisung, sachliche Zuständigkeit, Haft, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, in Deutschland geborene Kinder, Ermessen, Nachschieben von Gründen, Wiederholungsgefahr, Rechtsmittel, Widerspruch, Rechtsmittelausschluss
Normen: AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AAZuVO § 10 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 71 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7; VwGO § 114; EMRK Art. 8; ENA Art. 3; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; AGVwGW § 6a
Auszüge:

Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen verstößt trotz Ausschluss des Widerspruchsverfahrens nicht gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG, wenn ein dringender Fall im Sinne dieser Norm vorliegt; das ist der Fall, wenn ein besonderes Interesse am Sofortvollzug der Ausweisung besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die im Bescheid vom 30.11.2004 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung sind zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

Die Ausweisung findet gegenwärtig ihre Rechtsgrundlage in § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG.

Die Ausweisung ist formell rechtmäßig ergangen. Insbesondere war das Regierungspräsidium T. - entgegen der Auffassung des Klägers - für deren Erlass sachlich zuständig, da sich der Kläger zum Zeitpunkt der Einleitung des Ausweisungsverfahrens im Juni 2002 in Strafhaft befand und diese Zuständigkeit mit seiner Haftentlassung im April 2003 nicht (wieder) beendet wurde. Sachlich zuständige Behörde war nach dem AuslG (§ 63 Abs. 1 AuslG) und ist heute nach dem AufenthG (§ 71 Abs. 1 AufenthG) die Ausländerbehörde. Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 AuslG i. V. m. § 9 Abs. 1 Satz 1 AAZuVO 1995 (GBl. v. 19.08.1995, S. 589) und nach § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 10 Abs. 1 Satz 1 AAZuVO 2005 (GBl. v. 14.01.2005, S. 95) ist das Regierungspräsidium als höhere Ausländerbehörde für die Ausweisung straffälliger Ausländer, wenn sich diese - wie hier - auf richterliche Anordnung in Strafhaft oder länger als eine Woche in Untersuchungshaft befinden, durchgängig zuständig. Diese Zuständigkeit bleibt nach der inhaltsgleichen Regelung in § 9 Abs. 1 Satz 2 AAZuVO 1995 und in § 10 Abs. 1 Satz 2 AAZuVO 2005 bis zur Entscheidung über die Ausweisung bestehen, auch wenn der Ausländer aus der Haft entlassen wird.

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und kann sich auf ein gesetzliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen, mit dem ihm ein besonderer Ausweisungsschutz zukommt. Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 vorliegen, begründet Art. 7 ARB 1/80 einen besonderen Ausweisungsschutz für den Kläger und die Möglichkeit der Berufung auf die Regelungen und Wirkungen des ARB 1/80. Der Kläger hat als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt der BRD angehörenden türkischen Arbeitnehmers die Genehmigung erhalten zu ihm zu ziehen. Hierbei ist es zunächst unbeachtlich, ob der Kläger bereits seit seiner Geburt 1979 oder erst 1984 in die BRD eingereist ist. Zwar ist in Art. 7 ARB 1/80 die Rede von "Genehmigung erhalten", dies lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass die Verfasser des Beschlusses diejenigen Familienangehörigen ausschließen wollten, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats geboren wurden. Art. 7 ARB 1/80 verfolgt den Zweck, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen, indem den Familienangehörigen zunächst gestattet wird, bei den Wanderarbeitnehmern zu leben, und ihre Stellung nach einer gewissen Zeit durch die Verleihung des Rechts gestärkt wird, in diesem Staat eine Beschäftigung aufzunehmen (EuGH, Urteil vom 17. April 1997, C-351/95, Kadiman; EuGH, Urteil vom 16.03.2000, C-329/97, Ergat). Die Genehmigung hierfür ist erforderlich, da die erstmalige Zulassung der Einreise solcher Staatsangehöriger in einen Mitgliedsstaat im Grundsatz ausschließlich dem Recht dieses Staates unterliegt und die Einreisebestimmungen durch den ARB nicht berührt werden. Die Genehmigung bezweckt daher ausschließlich, diejenigen Familienangehörigen von Art. 7 ARB 1/80 auszunehmen, die unter Verstoß der Einreisebestimmungen in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind und dort wohnen. Daher kann sich der Kläger als Kind eines in Art. 7 S. 1 ARB 1/80 bezeichneten türkischen Arbeitnehmers darauf berufen, dass diese Vorschrift zu seinen Gunsten gilt, auch wenn er im Aufnahmemitgliedsstaat geboren ist und dort stets gelebt hat.

Der Kläger kann sich somit als türkischer Staatsangehöriger auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen. Dies hat zur Folge, dass zu seinen Gunsten von veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen (vgl. hierzu: EuGH, Urteil vom 29.04.2004, C-482/01, Orfanopoulos, DVBl 2004, 876 ff.) an eine Ausweisung auszugehen ist. Zwar bezieht sich diese Entscheidung des EuGH auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, sie ist jedoch hinsichtlich ihrer materiellen Grundsätze auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen. Der Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 beruht auf dem "Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei" aus dem Jahr 1963, das der EuGH als integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsordnung ansieht. Die Gleichstellung türkischer Staatsangehöriger mit EU-Angehörigen ergibt sich zum einen aus dem Zweck des ARB 1/80 sowie aus der Tatsache, dass der Vorbehalt in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Regelung in Art. 39 Abs. 3 EG entspricht. Daher ist abzuleiten, dass die im Rahmen der Art. 39 ff EG geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, welche die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen (EuGH, Urteil vom 10.02.2000, C-340/97, Nazli, und Urteil vom 11.11.2004, C-467/02, Cetinkaya). Aus dieser Gleichstellung kombiniert mit der Entscheidung des EuGH vom 29.04.2004 (Orfanopoulos) ergeben sich für türkische Staatsangehörige, die die Rechte aus dem ARB 1/80 besitzen, mehrere rechtliche Folgerungen (vgl. auch: BVerwG, Urteile vom 03.08.2004 - BVerwG 1 C 30.02 - und - BVerwG 1 C 29.02 -): ...

Diesen Grundsätzen wird die hier streitige Ausweisungsentscheidung gerecht.

Das Regierungspräsidium hat die Ausweisung im Bescheid vom 31.11.2004 zwar primär auf die Rechtsgrundlage des § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG und somit auf einen Ist - Ausweisungstatbestand gestützt, der aufgrund der gemeinschaftlichen Grundsätze bei einem privilegierten türkischen Staatsangehörigen nicht angewendet werden kann. Hilfsweise wurde jedoch auch eine Ermessensentscheidung nach §§ 45, 46 AuslG getroffen, die unter Berücksichtigung der im Klageverfahren ergänzten Ermessenserwägungen den dargelegten, erhöhten Anforderungen bei der Ausweisung eines durch den ARB 1/80 privilegierten türkischen Staatsangehörigen entspricht.

Die Ausweisung ist auch nicht wegen eines Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG, die auch für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 gilt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.06.2005, C-136/03, Dörr/Ünal), rechtswidrig. Hiernach trifft, sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist. Eine dem entsprechende Stellungnahme einer nicht für die Ausweisung zuständigen Stelle ist vorliegend nicht ergangen, zumal hier aufgrund von § 6 a AGVwGO auch kein Vorverfahren durchgeführt wurde. Ob die Verfahrensgarantien des Art 9 der Richtlinie 64/221/EWG generell durch den Rechtsschutz erfüllt werden, den die Verwaltungsgerichte in Deutschland gewähren (so VGH B.-W., Urteil vom 21.07.2004, - 11 S 535/04 -), kann offen bleiben. Denn die - vorherige - Einschaltung einer "zuständigen Stelle" kann jedenfalls "in dringenden Fällen" unterbleiben; diese Ausnahme ist in Art 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG für alle drei Fallgestaltungen ausdrücklich vorgesehen (vgl. VGH B.-W., Beschluss vom 22.03.2004, - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff). Vom Vorliegen eines ,,dringenden Falles" in diesem Sinne ist das Regierungspräsidium beim Erlass der gegen den Kläger ergangenen Ausweisungsverfügung vom 30.11.2004 ausgegangen; denn es hat die Ausweisung des Klägers wegen der von ihm ausgehenden schweren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung - auch - aus spezialpräventiven Gründen für erforderlich gehalten und hat diese in der Annahme für sofort vollziehbar erklärt, dass die begründete Besorgnis bestehe, dass sich die vom Kläger ausgehende, mit seiner Ausweisung bekämpfte Gefahr schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren werde. Diese Bewertung hält das Gericht zum Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsentscheidung (der Kläger wurde damals nach dem Therapieabbruch per Haftbefehl gesucht) wie auch gegenwärtig für zutreffend; dementsprechend hat die Kammer unter Anwendung des gleichen Prüfungsmaßstabs im am Tag der mündlichen Verhandlung entschiedenen Eilverfahren (4 K 18/05) das Vorliegen eines gegenwärtigen, besonderen Sofortvollzuginteresses bejaht. Die Annahme des Bestehens eines gegenwärtigen, besonderen Sofortvollzuginteresses an der Ausweisung rechtfertigt grundsätzlich die gleichzeitige Annahme des Bestehens eines "dringenden Falls". Lag im Fall des Klägers aber ein ,,dringender Fall" vor, so folgt hieraus, dass das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren vor einer "zuständigen Stelle" der Entscheidung über seine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht vorauszugehen hatte und dass sein Unterbleiben mithin nicht gegen die in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG festgelegten Rechtsschutzgarantien verstößt.