Tschetschenen, die nicht als Unterstützer der Rebellen in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten sind, steht eine inländische Fluchtalternative in Russland offen.
Tschetschenen, die nicht als Unterstützer der Rebellen in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten sind, steht eine inländische Fluchtalternative in Russland offen.
(Leitsatz der Redaktion)
Auch unter dem Gesichtspunkt einer so genannten Gruppenverfolgung steht dem Kläger kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu.
Dabei kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen einer regional begrenzten Gruppenverfolgung in Tschetschenien für tschetschenische Volkszugehörige oder zumindest für männliche Tschetschenen im wehrfähigen Alter zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers erfüllt waren oder gegenwärtig sind. Denn Tschetschenen aus Tschetschenien haben in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative, sofern sie nicht in besonderem Maße als potentielle Unterstützer der tschetschenischen Rebellen in das Blickfeld der russischen Sicherheitskräfte gelangt sind.
Es gibt keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Tschetschenen, auch wenn sie wie der Kläger - was in diesem Zusammenhang unterstellt werden kann - früher in Tschetschenien gelebt haben, allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt waren oder heute sind.
Zwar ist nicht zu verkennen, dass in der Russischen Föderation nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei staatlichen Stellen vielfach Vorbehalte gegen Tschetschenen bestehen, die nicht selten zu willkürlichen, auch gewalttätigen Maßnahmen gegen Angehörige dieses Volkes führen. Die Art bzw. Intensität und - mit Blick auf die Zahl der Flüchtlinge aus dem Kaukasus und speziell aus Tschetschenien in der Russischen Föderation - auch die Häufigkeit derartiger Maßnahmen rechtfertigen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht die Annahme, Verfolgungsschläge von asylerheblichem Gewicht seien außerhalb Tschetscheniens so häufig, dass jedes Gruppenmitglied die begründete Furcht haben müsse, selbst Opfer solcher Übergriffe zu werden.
Aus all diesen Erkenntnissen ergibt sich zwar, dass es immer wieder zu diskriminierenden Maßnahmen und Übergriffen gegen Kaukasier, insbesondere gegen Tschetschenen, kommt, von denen nicht alle, aber doch einige die Schwelle des asylrechtlich Relevanten überschreiten. Angesichts der Größe der Russischen Föderation und des Umstandes, dass mehrere 100.000 Flüchtlinge und andere Personen aus Tschetschenien in anderen Teilen Russlands leben, lässt sich aber nicht feststellen, dass jedem Tschetschenen ohne weiteres die aktuelle Gefahr droht, selbst von Maßnahmen asylerheblicher Intensität betroffen zu sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Ausweiskontrollen, kurzzeitige Festnahmen, Hausdurchsuchungen, die Auferlegung von Bußgeldern wegen (dauernden) Aufenthaltes an einem Ort, an dem man nicht registriert ist, und auch das Verlangen von Bestechungsgeldern in der Regel noch nicht asylrechtlich relevant sind. Dementsprechend hat die Kammer in der Vergangenheit eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in unterschiedlichen Fallkonstellationen abgelehnt (vgl. Urteil vom 6. März 2003 - 1 K 4313/99.A -, betreffend die Situation ethnischer Tschetschenen in der Russischen Föderation, die aus Regionen außerhalb Tschetscheniens stammen und vor allem nicht in Tschetschenien leben; Urteil vom 24. September 2003 - 1 K 759/02.A - betreffend Tschetschenen, die zwar aus Tschetschenien stammen, im Laufe des Jahres 2001 jedoch in einer anderen Region der Russischen Föderation (in jenem Fall im Großraum Rostow) zumutbare Lebensbedingungen gefunden hatten; Urteile vom 17. September 2003 - 1 K 3212/01.A -, vom 28. Januar 2004 - 1 K 252/02.A - , vom 16. März 2005 - 1 K 4981/02.A - und vom 01. September 2005 - 1 K 2068/03.A - betreffend Tschetschenen aus Tschetschenien, bei denen eine individuelle Betroffenheit von unmittelbaren schwerwiegenden Gefährdungssituationen nicht glaubhaft ist.).
Eine inländische Fluchtalternative ist nicht deshalb zu verneinen, weil nach den oben zitierten Auskünften und Berichten Tschetschenen aus Tschetschenien wenig Aussicht haben, außerhalb ihrer Heimatregion als Binnenflüchtlinge anerkannt zu werden. Eine solche Flüchtlingsanerkennung bringt zwar etliche Vorteile mit sich, ist aber zur Erlangung des wirtschaftlichen Existenzminimums nicht notwendig. Ebenso wenig steht einer inländischen Fluchtalternative entgegen, dass Tschetschenen ungeachtet der verfassungsrechtlich garantierten Freizügigkeit vielfach Schwierigkeiten haben, am Ort ihres tatsächlichen Aufenthaltes offiziell registriert zu werden und damit bestimmte Sozialleistungen (Sozialhilfe, Zugang zu staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem) in Anspruch nehmen zu können. Zum einen wird zwar der legale Zuzug von Tschetschenen besonders in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg erschwert. In Südrussland, etwa in Dagestan oder in der Wolgaregion, ist eine Registrierung jedoch leichter zu erlangen, wenn auch teilweise erst nach Intervention einflussreicher Personen oder nach Zahlung von Bestechungsgeldern. Zum anderen ist die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums auch dann möglich, wenn eine offizielle Registrierung verweigert wird, es aber gelingt, in der tschetschenischen Diaspora Anschluss zu finden. In allen Teilen der Russischen Föderation leben tausende Menschen, ohne offiziell am Ort ihres tatsächlichen Aufenthaltes registriert zu sein. Eine zwangsweise Rückführung dieser Personen an den Ort ihrer Registrierung ist nicht feststellbar (vgl. z.B. UNHCR, Stellungnahme zur Situation tschetschenischer Binnenvertriebener und zum Registrierungssystem vom 29. Oktober 2003 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, abgedruckt in Asylmagazin (Zeitschrift) 2003, Heft 12, Seite 22 f; Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 30. August 2005).