VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 12.04.2005 - 8 K 1275/03 - asyl.net: M7317
https://www.asyl.net/rsdb/M7317
Leitsatz:
Schlagwörter: Familienzusammenführung, außergewöhnliche Härte, Pflegebedürftigkeit, Anerkennungsbescheid, Suspensiveffekt, Bindungswirkung, Ermessen, Visum nach Einreise, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visum, Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Ashkali, Anspruch, Ermessensreduzierung auf Null, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Märzunruhen, Versorgungslage
Normen: AufenthG § 36; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Kläger Ziff. 1 und 2 können beanspruchen, dass die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG entscheidet.

Soweit die Kläger geltend machen, ihr Aufenthalt sei erforderlich, weil sie die Mutter des Klägers Ziff. 1 betreuen bzw. pflegen müssten, ist Rechtsgrundlage § 36 AufenthG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift kann einem sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Mit der Tatbestandsvoraussetzung der außergewöhnlichen Härte wollte der Gesetzgeber in § 22 AuslG bzw. § 36 AufenthG die unter Geltung des Ausländergesetzes 1965 bestehende Praxis fortschreiben, den Nachzug ausländischer Familienangehöriger, die nicht Ehegatten oder minderjährige Kinder eines hier lebenden Ausländers sind, auf Härtefälle zu beschränken. Eine außergewöhnliche Härte kann dementsprechend nur angenommen werden, wenn die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis im Einzelfall zu Härten führt, die unter Berücksichtigung des Schutzgebotes aus Art. 6 GG im Vergleich zu den vom AuslG in den §§ 17 bis 21 AuslG bzw. in den §§ 27 bis 35 AufenthG gestatteten und den nicht erlaubten Fällen des Familiennachzugs als außergewöhnlich zu bezeichnen sind. Es ist mithin ein erhebliches Abweichen vom Regeltatbestand der Aufenthaltsversagung für nicht nach §§ 27 bis 35 AufenthG nachzugsberechtigte Person notwendig, das aufgrund individueller Besonderheiten nach Art und Schwere ungewöhnliche Schwierigkeiten bereitet und die Herstellung und Wahrung der Familiengemeinschaft zwischen den Betroffenen im Bundesgebiet erfordert.

Die Mutter des Klägers Ziff. 1 wird von den Klägern Ziff. 1 und 2 laufend betreut und gepflegt. Die Lebenshilfe wird sowohl vom Kläger Ziff. 1 in seiner Freizeit als auch von der Klägerin Ziff. 2 in den übrigen Zeiten erbracht. Auch die Klägerin Ziff. 2 kann sich, weil sie mit ihrer Schwiegermutter verschwägert ist, auf Art. 6 GG sowie § 36 AufenthG berufen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 05.07.1999 a.a.O.; OVG Hamburg, Beschl. v. 23.08.1994 - Bs IV 150/94 -; Hailbronner AuslR § 22 AuslG RdNr. 3). Dass - wie die Beklagte meint - die beiden ebenfalls in XXXXXXXX lebenden Schwestern des Klägers Ziff. 1 ebenfalls die Betreuung ihrer Mutter übernehmen könnten, steht der Annahme einer außergewöhnlichen Härte - wie schon ausgeführt - nicht entgegen. Entscheidend ist, dass die Lebenshilfe von den Klägern Ziff. 1 und 2 tatsächlich erbracht wird.

Eine Rückkehr in den Kosovo kann der Mutter des Klägers Ziff. 1 derzeit nicht zugemutet werden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Bundesamt - hat sie mit Bescheid vom 21.06.1994 als Asylberechtigte anerkannt und zu ihren Gunsten festgestellt, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 Abs. 4 AuslG vorliegen. Mit Urteil des erkennenden Gerichts vom 25.04.1994 - A 10 K 10461/94 - war das Bundesamt zu einem entsprechenden Bescheid verpflichtet worden. Zwar hat das Bundesamt inzwischen mit Bescheid vom 14.09.2004 die Anerkennung als Asylberechtigte sowie die im Bescheid vom 21.06.1994 getroffenen Feststellungen widerrufen. Die Mutter des Klägers Ziff. 1 hat jedoch Klage erhoben (A 8 K 11348/04), u. a. mit dem Ziel der Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG. Soweit die Klage gegen die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes gerichtet ist, hat sie gemäß § 75 AsylVfG aufschiebende Wirkung. Eine Rückkehr in den Kosovo bzw. nach Serbien und Montenegro kann ihr jedenfalls vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht zugemutet werden.

Zwar steht die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde. Auch setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG grundsätzlich voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Dies ist bei den Klägern nicht der Fall, da sie ohne Visum nach Deutschland eingereist sind. Grundsätzlich gebieten Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht die Freistellung von der Visumspflicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.06.1996, BVerwGE 101, 265). Allerdings ist im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass der Verstoß der Kläger gegen die Visumspflicht angesichts des zum Zeitpunkt der Ausreise aus dem Kosovo herrschenden bzw. zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland allenfalls wenige Tage beendeten Krieges und der im Winter 1998/1999 bzw. Frühjahr 1999 erfolgten massenhaften Vertreibungen der albanischen Volkszugehörigen, denen sich damals auch die Angehörigen der Volksgruppe der Ashkali zugehörig fühlten, relativ gering wiegt.

Zwar ist - wie schon ausgeführt - nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Hiervon kann jedoch gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG u. a. dann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind. Die Vorschrift ist auch in den Fällen anwendbar, in denen ein Aufenthaltstitel aufgrund einer Ermessenreduktion auf Null erteilt werden muss (vgl. vorläufige Anwendungshinweise AufenthG vom 22.12.2004, Ziff. 5.2.2; Zeitler, HTK-AuslR/§ 5 AufenthG/ zu Abs. 2 Satz 2; a. A. Hailbronner AuslR, § 5 AufenthG, RdNr. 65). Insofern ist eine Änderung der Rechtslage eingetreten. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG konnte von der Durchführung des Visumsverfahrens nur abgesehen werden, wenn "die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung nach diesem Gesetz" offensichtlich erfüllt waren. Das Bundesverwaltungsgericht hatte anknüpfend an diese Formulierung, die mit der in § 11 Abs. 1 AuslG ("in den Fällen eines gesetzlichen Anspruches") weitgehend übereinstimmte, die Auffassung vertreten, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung i. S. d. § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ein strikter Rechtsanspruch sein müsse. Ausreichend sei nicht ein Anspruch, der nur Ermessen eröffnet, selbst wenn im Einzelfall das Ermessen "auf Null" reduziert sei (vgl. Urteil vom 17.03.2004, DVBl 2004, 906 = NVwZ-RR 2004, 687 und Urteil vom 18.06.1996, BVerwGE 101, 265 zu § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG; Beschl. vom 17.03.1993, InfAuslR 1993, 278 zu § 11 Abs. 1 AuslG). Von der im Ausländergesetz verwendeten Formulierung ist der Gesetzgeber - in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgewichen, und dies obwohl an anderer Stelle weiterhin von "den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs" (vgl. § 10 Abs. 1 AufenthG) bzw. den "Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz" (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) die Rede ist. Daraus ist zu schließen, dass der Gesetzgeber nunmehr die Möglichkeit eröffnen wollte, auch in den Fällen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der sich lediglich aufgrund einer Ermessensreduktion auf Null ergibt, von der Durchführung eines Visumsverfahrens abzusehen.

Die Kläger Ziff. 3 bis 5 können auch nicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG aus humanitären Gründen beanspruchen.

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.

Zwar liegt derzeit möglicherweise hinsichtlich der zur Minderheit der Ashkali aus dem Kosovo gehörenden Personen nicht mehr eine Erlasslage vor, die eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hindert. Von einer extremen Gefahrenlage für Angehörige der Minderheit der Ashkali kann jedoch nicht ausgegangen werden. Nach der derzeitigen Erkenntnislage (vgl. Bericht des AA über die abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro - Kosovo - v. 04.11.2004) ist nicht davon auszugehen, dass Ashkali bei einer Rückkehr in den Kosovo aufgrund der dort herrschenden Lebensbedingungen mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wären (vgl. auch OVG Lüneburg, Urt. v. 28.08.2001 - 8 LB 2409/01 - m.w.N.; Bay. VGH, Beschl. v. 08.04.2002, AuAS 2002, 116, m.w.N.).