!!! Aufgehoben wegen eines Verfahrensfehlers durch BVerwG, Beschluss v. 24.5.2006 - 1 B 129.05 -.
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Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr; der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist bei der Gefahr einer Gruppenverfolgung nur dann anzuwenden, wenn sich der Betroffene während der Verfolgungshandlungen im Verfolgungsgebiet aufgehalten hat.
Das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (entspricht § 60 Abs. 1 AufenthG) zu Unrecht bejaht, denn die Kläger sind keine politisch Verfolgten im Sinne dieser Vorschrift (1). Dagegen hat das Verwaltungsgericht die Abschiebungsandrohung nach Syrien zu Recht aufgehoben (2).
In Betracht käme daher allenfalls eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei. Derartige Verfolgungshandlungen, wie sie in der Vergangenheit in der Türkei stattgefunden haben (vgl. dazu z.B. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 24.11.2000 - 8 A 4/99.A -, JURIS), haben die Kläger nicht zu befürchten. Der Senat unterstellt zugunsten der Kläger zwar, dass sie glaubengebundene Yeziden sind. Allein deswegen droht ihnen in der Türkei jedoch keine politische Verfolgung, denn in der Türkei gibt es gegenwärtig keine Gruppenverfolgung von Yeziden mehr.
In den letzten Jahren sind keine Verfolgungsschläge gegen die in der Türkei verbliebenen Yeziden mehr feststellbar. Den neueren Erkenntnismitteln des Gerichts sind Verfolgungsschläge nicht mehr zu entnehmen. Das Auswärtige Amt, das früher immer auf die Gefahr mittelbarer Verfolgung von Yeziden hingewiesen hatte, hat in mehreren aktuellen Auskünften ausdrücklich erklärt, dass in neuerer Zeit keine Übergriffe auf Yeziden bekannt geworden seien (Lagebericht v. 03.05.2005, S. 16; Auskunft v. 26.11.2004 an das VG Greifswald; Auskunft v. 03.02.2004 an das VG Braunschweig). Auch bei Recherchen in der deutschsprachigen Presse sowie in sonstigen Medien (insbesondere Internetseiten von Menschenrechtsorganisationen) hat der Senat keine asylrechtlich relevanten Vorfälle gegen Yeziden in der Türkei ermitteln können.
Ist die Gruppenverfolgungssituation im Verfolgerstaat beendet, so haben Mitglieder der verfolgten Gruppe gleichwohl einen Schutzanspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG, wenn die Gefahr besteht, dass sich in absehbarer Zeit erneut eine Gruppenverfolgungssituation entwickelt. Ob es ihnen zumutbar ist, in den ehemaligen Verfolgerstaat zurückzukehren oder sich dort erstmalig anzusiedeln, hängt davon ab, welcher Verfolgungsmaßstab auf die Asylbewerber anzuwenden ist und wie die hoch das Risiko einer Wiederholungsgefahr ist.
Für die Kläger ist der "normale" Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgeblich. Der für Asylbewerber günstigere Maßstab der hinreichenden Sicherheit gilt im Grundsatz nur für solche Personen, die schon einmal Verfolgungsmaßnahmen erlitten haben. Dies beruht darauf, dass es unzumutbar wäre, solchen Personen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden. Rechtfertigung hierfür ist das psychische Trauma des bereits einmal Verfolgten und dessen erhöhte Gefährdung (zusammenfassend BVerwG, Urt. v. 14.12.1993 - 9 C 45.92, DVBl. 1994, 524). Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht diesen Maßstab auch auf andere Fallgruppen ausgeweitet. So ist bei aktuell praktizierter regionaler Gruppenverfolgung für die Beurteilung einer eventuell in Betracht kommenden inländischen Fluchtalternative der Maßstab der hinreichenden Sicherheit auch dann anzuwenden, wenn der Asylsuchende das Verfolgungsgebiet bereits vor Beginn der Verfolgungshandlungen verlassen hat (BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 171.95, BVerwGE 101, 134; Urt. v. 09.09.1997 - 9 C 43.96, BVerwGE 105, 204). Diese Erweiterung des Maßstabes der hinreichenden Sicherheit auf unverfolgt ausgereiste Asylsuchende gilt aber nicht für die hier maßgebliche Frage, ob in Zukunft mit der Wiederholung einer für die Vergangenheit festgestellten, zwischenzeitlich beendeten, Gruppenverfolgung gerechnet werden muss. Insoweit gilt grundsätzlich der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hinsichtlich der Beurteilung, ob sich in absehbarer Zeit eine zwischenzeitlich beendete Gruppenverfolgungssituation wiederholen könnte, gilt der herabgeminderte Maßstab nur für denjenigen, der sich während der Verfolgungshandlungen im Verfolgungsgebiet aufgehalten hat (BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 , 9 C 85.87, auf das das Urteil vom 30.04.1996 aaO ausdrücklich Bezug nimmt). Demjenigen, der sich im Zeitraum der Gruppenverfolgungsmaßnahmen außerhalb des Verfolgungsgebiets aufgehalten hat oder damals noch nicht geboren war, kommt der herabgeminderte Maßstab nicht zugute. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist für die Beurteilung, ob es erneut zu einer Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei kommen wird, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgeblich, denn die Kläger haben sich niemals im Verfolgungsgebiet aufgehalten.
Der Senat hält es nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass in absehbarer Zeit erneut eine Gruppenverfolgungssituation zu Lasten von glaubensgebundenen Yeziden entsteht. Dem Senat ist in diesem Zusammenhang bewusst, dass die Mitglieder der verfolgten Gruppe (Yeziden) fast vollständig emigriert sind. In einer solchen Situation ist insbesondere in Betracht zu ziehen, dass die Verfolgungsschläge bei einer Rückkehr von Mitgliedern einer ehemals verfolgten Gruppe wieder zunehmen könnten. Eine solche Gefahr liegt insbesondere dann nahe, wenn die politischen Umstände, die eine mittelbare Gruppenverfolgung ermöglicht haben, fortbestehen. Diese Gefahr ist hier zu verneinen, denn es gibt deutliche Indizien, die die Prognose rechtfertigen, dass die frühere Gruppenverfolgung von Yeziden bei einer Rückkehr yezidischer Asylbewerber nicht erneut eintritt. Ein wichtiges Indiz ist, dass trotz der Rückkehr yezidischer Familien in die Türkei bisher keine Verfolgungshandlungen feststellbar waren. Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Staatsorgane jetzt bereit und in der Lage sind, verfolgte Minderheiten, so auch die Yeziden, zu schützen und ihre Rechte durchzusetzen.
Die Prognose, dass die türkischen Staatsorgane jetzt und in Zukunft im Grundsatz schutzbereit und schutzfähig sind, stützt sich auch auf die in den letzten Jahren erfolgten politischen Veränderungen in der Türkei (vgl. im Einzelnen, Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 03.05.2005). Besondere Bedeutung misst der Senat dem Beschluss des Europäischen Rates (ER) vom 16./17. Dezember 2004 bei, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG wegen politischer Verfolgung in Syrien.
Dass den Klägern als illegal ausgereisten Kurden, die entweder türkische Staatsangehörige oder staatenlos sind, eine Rückkehr nach Syrien nicht möglich ist, hat das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt. Der Senat nimmt darauf Bezug (vgl. insoweit auch: OVG Lüneburg, Beschl. v. 02.08.2004 2 LA 342/03; OVG Saarland, Beschl. v. 13.09.2002 3 R 3/02). Die Auffassung der Beklagten, die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24. August 2004 an das Verwaltungsgericht Schleswig stehe dieser Beurteilung entgegen, trifft nicht zu, denn diese Auskunft bezieht sich nicht auf einen Asylbewerber, der wie die Kläger illegal aus Syrien ausgereist ist. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Einreiseverbot auf den in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen beruht. Im Gegenteil, nach der Auskunftslage knüpft die syrische Administration nicht an eine bestimmte Volks- oder Religionszugehörigkeit an, sondern allein daran, dass der betreffende Ausländer kein Recht zum Aufenthalt in Syrien hat (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 26.04.2001 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes).
Das Verwaltungsgericht hat die Abschiebungsandrohung nach Syrien zu Recht aufgehoben. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Illegal aus Syrien ausgereiste staatenlose Kurden, als die die Kläger in Syrien unstreitig betrachtet werden, können nicht nach Syrien zurückkehren (s.o.). Die fehlende Rückkehrmöglichkeit nach Syrien rechtfertigt auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung nach Syrien. Die Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen führt zwar nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung (vgl. z.B. BVerwG, Beschl. v. 29.06.1998 9 B 604.98; Urt. v. 10.07.2003 1 C 21.02, E 118, 308; Senat, Beschl. 01.03.2005 1 LB 25/04), sie berechtigt aber nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 10.07.2003 aaO), die der Senat zu Grunde legt, aus Gründen der Prozessökonomie die Aufhebung der Zielstaatsbestimmung in der Abschiebungsandrohung, um dem Gericht die Prüfung von Abschiebungshindernissen zu ersparen (BVerwG, Urt. v. 10.07.2003, aaO). Da die fehlende Abschiebungsmöglichkeit feststeht und die Überprüfung der gesetzlichen Abschiebungshindernisse weiterer Überprüfung bedürfte, übt der Senat sein Ermessen ebenso wie das Verwaltungsgericht aus.