VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 15.09.2005 - A 1 K 12132/03 - asyl.net: M7339
https://www.asyl.net/rsdb/M7339
Leitsatz:

Keine Gefahr der Deportation oder der Einreiseverweigerung für äthiopische Staatsangehörige bei halb-eritreischer Abstammung; extreme Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung für allein stehende Frau.

 

Schlagwörter: Äthiopien, gemischt-ethnische Abstammung, Eritreer, Deportation, Einreiseverweigerung, Staatsangehörigkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, alleinstehende Frauen
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Gefahr der Deportation oder der Einreiseverweigerung für äthiopische Staatsangehörige bei halb-eritreischer Abstammung; extreme Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung für allein stehende Frau.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin ist nicht asylberechtigt.

Selbst bei Anlegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs kann auf Grund der aktuellen Auskunftsklage nicht festgestellt werden, dass ihr im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien eine Deportation droht. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes - AA - finden spätestens seit 2002 keine Deportationen mehr statt (Auskunft vom 01.07.2004 an VG Wiesbaden; Lagebericht vom 24.07.2005). Für das Jahr 2003 liegen auch dem Institut für Afrika-Kunde keine Informationen über Deportationen nach Eritrea vor. Die Repatriierung von 81 Eritreern im März 2004 unter Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes erfolgte nach den Erkenntnissen des Instituts zum Zwecke der Familienzusammenführung (Institut für Afrika-Kunde - IAK - vom 28.05.2004 an VGH München). Im Januar 2004 hat die äthiopische Regierung überdies eine neue Direktive zur Klarstellung des Rechtsstatus von Personen eritreischer Herkunft in Äthiopien erlassen, wonach Bürger eritreischer Herkunft, die ihre (eritreische) Staatsangehörigkeit nicht aufgeben, gleichwohl aber in Äthiopien leben möchten, eine unbefristete Aufenthaltsbefugnis erhalten. Diese Regelung wird in der Praxis auch umgesetzt. So hat im Februar 2004 die Registrierung von Personen eritreischer Herkunft in Addis Abeba und anderen Städten und die Erteilung von Daueraufenthaltserlaubnissen begonnen (AA vom 01.07.004 an VG Wiesbaden; Lagebericht vom 25.07.2005; IAK vom 28.05.2004 an VGH München; Schröder, Gutachten vom 16.06.2004 an VGH München).

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ihr der äthiopische Staat die Wiedereinreise verweigere und damit ein beachtlicher (objektiver) Nachfluchtgrund im Sinne des § 28 AsylVfG bestehe.

Zwar hat die Klägerin ausschließlich die äthiopische Staatsangehörigkeit. Auf Grund ihrer Geburt vor der Sezession des eritreischen Teilgebiets des früheren Äthiopiens hat sie als Kind damals äthiopischer Staatsangehöriger nach Art. 1 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22.07.1930 (ÄthStaG) von ihren Eltern die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben. Sie hat ihre äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht verloren. Insbesondere greift vorliegend die Regelung des Art. 11a ÄthStaG, wonach ein äthiopischer Staatsangehöriger seine Staatsangehörigkeit durch den Erwerb einer anderen verliert, nicht ein. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin die eritreische Staatsangehörigkeit erworben hat. Hierfür ist ein förmliches Verfahren durchzuführen, in dem die eritreischen Behörden prüfen, ob tatsächlich eine eritreische Staatsangehörigkeit vorliegt (vgl. AA vom 21.07.2003 an VG München; VG Aachen, Urteil vom 26.08.2004 - 7 K 2050/02.A). Ein solches Verfahren hat die Klägerin nach ihrem Vorbringen nicht durchgeführt.

In ihrem Fall ist es jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der äthiopische Staat ihr die Wiedereinreise in Anknüpfung an ihre halberitreische Volkszugehörigkeit verweigern wird. Zwar kommt es bei der Ausstellung von Papieren durch die äthiopische Botschaft in Berlin häufig zu Problemen, da diese zum Teil nur zur Ausstellung bereit sind, wenn die Ausreisepflichtigen bestätigen, freiwillig heimkehren zu wollen. Bei äthiopischen Passinhabern eritreischer Abstammung ist eine Rückübernahme im Übrigen nur dann gewährleistet, wenn das Reisedokument deutlich nach Ausbruch des Grenzkonflikts mit Eritrea im Mai 1998 ausgestellt wurde (AA Lagebericht vom 25.07.2005). Nach Ausbruch des Konflikts war in dieser Hinsicht bei den äthiopischen Behörden eine sehr restriktive und willkürliche Vorgehensweise festzustellen, die sich jedoch mit dem Ende des äthiopischen-eritreischen Grenzkrieges wieder deutlich liberalisiert hat (AA vorn 27.08.2002 an VG Regensburg, vgl. auch Hess. VGH, Urt. v. 19.02.2003 - 9 UE 1701/98.A, (juris) m.w.N.).

Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich zugleich, dass auch die Voraussetzungen des - zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung noch geltenden - § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des - in diesem Zusammenhang nunmehr anzuwendenden und zu prüfenden (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) - § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind.

Die Klägerin hat indes Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung wegen allgemeiner Gefahren i. S. v. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG (vgl. zur verfassungskonformen Auslegung BVerwG, Urt. v. 17. 10.1995, a.a.O., u. v. 12. 07.2001, BVerwGE 115, 1). Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin auf Grund der allgemeinen Lage in Äthiopien im Falle einer Rückkehr akut an Leib und Leben gefährdet wäre. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes in Äthiopien nicht in allen Landesteilen und zu jederzeit gesichert. Die Existenzbedingungen in Äthiopien, einem der ärmsten Länder der Welt, sind für große Teile insbesondere der Landbevölkerung äußerst hart und, bei Ernteausfällen, potenziell lebensbedrohend. In diesen Fällen ist das Land auf die Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen angewiesen. Im Jahr 2003 war Äthiopien von schweren Ernteausfällen und Dürreperioden betroffen und über 13 Millionen Äthiopier lebten von internationaler Nahrungsmittelhilfe. Im Jahr 2004 hat sich die Situation nicht wesentlich verbessert; erneut erhalten 7 bis 8 Millionen Äthiopier Nahrungsmittelhilfe (AA Lagebericht vom 25.07.2005 und Auskunft vom 29.04.2003 an VG München; IRINnews.org v. 05.01.2005, Etiopia-Eritrea: Chronology of key events in 2004). Rückkehrer können in dieser Lage nicht mit der Hilfe von Nichtregierungsorganisationen rechnen, auch staatliche Wiedereingliederungshilfen gibt es nicht. Für sie ist es daher lebensnotwendig, dass sie entweder eine gute Ausbildung haben, die ihnen Chancen auf dem äthiopischen Arbeitsmarkt eröffnet, oder über etwas Startkapital verfügen, das eine bescheidene Existenzgründung ermöglicht. Ansonsten ist es in Äthiopien nach wie vor schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden. Die Arbeitslosenquote allein in Addis Abeba liegt bei 60 Prozent (Accord, Reisebericht Äthiopien, Dezember 2004). Auch soziale Sicherungssysteme gibt es nicht (vgl. AA Lagebericht vom 25.07.2005; IAK vom 07.06.2004 an VG München). Besondere Bedeutung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz hat auch heute noch die familiäre Einbettung. Ohne verwandtschaftliche Beziehungen ist es äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine Beschäftigung zu finden, die ein auch nur annähernd ausreichendes Einkommen garantiert (amnesty international - ai - vom 13.02.2001 an Hess. VGH; IAK vom 07.06.2004 an VG München; Hess. VGH, Urt. v. 19.02.2003 - 9 UE 1701/98.A). Geschlechtsspezifische Besonderheiten spielen dabei eine besondere Rolle. So haben es allein stehende Frauen besonders schwer, sich ohne familiären Rückhalt eine Existenzgrundlage zu schaffen oder eine Wohnung zu finden (ai vom 14.06.1999 an VG Wiesbaden; Accord, Reisebericht Äthiopien, Dezember 2004). Von der Gesellschaft werden allein stehende Frauen nicht akzeptiert. Eine Mehrzahl landet in der Prostitution oder findet lediglich eine Beschäftigung als Hausbedienstete, wo sie ebenfalls allen Formen der Gewalt ausgesetzt sind (Accord, Reisebericht Äthiopien, Dezember 2004).