OVG Berlin

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Zitieren als:
OVG Berlin, Beschluss vom 21.06.2005 - 8 S 171.04 - asyl.net: M7340
https://www.asyl.net/rsdb/M7340
Leitsatz:
Schlagwörter: Abschiebungshindernis, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, deutsche Kinder
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2;
Auszüge:

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Abschiebung des Antragstellers zu 1. rechtlich unmöglich.

Geht man mit den Beteiligten und dem Verwaltungsgericht davon aus, dass zwischen dem Antragsteller zu 1. und seinem ein Jahr alten deutschen Kind, der Antragstellerin zu 2., eine gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützte familiäre Lebensgemeinschaft besteht, die im Hinblick auf die im Bundesgebiet aufhältliche deutsche Mutter prinzipiell in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet aufrechterhalten werden kann, kommt es für die Beantwortung der Frage, ob dem Antragsteller zu 1. die Ausreise zur Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Visumsverfahren nicht zuzumuten ist, also ein zwingendes rechtliches Abschiebungshindernis vorliegt, darauf an, ob eine Abwägung der Belange der Bundesrepublik Deutschland mit dem Interesse des Antragstellers an einer ununterbrochenen Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen ihm und seinem Kleinkind nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein Überwiegen der privaten Bleibeinteressen der Antragsteller ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523.99 - NVwZ 2000, 59 [60]). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht allein deshalb schwerer wiegen als die durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützten privaten Interessen der Antragsteller, weil der Antragsteller zu 1. vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Durch das nachträgliche Entstehen der verfassungsrechtlich geschützten Lebensgemeinschaft ist eine neue Situation entstanden (BVerfG, a.a.O.). Allerdings sind Intensität und Häufigkeit solcher Verstöße ebenso wenig belanglos wie die sonstigen Umstände des Einzelfalles, zu denen neben der Dauer des Visumsverfahrens auch das sonstige Verhalten des Antragstellers während seines bisherigen Aufenthaltes und eine evtl. daraus herzuleitende Gefährdung öffentlicher Interessen gehören (vgl. dazu OVG Berlin, Beschluss vom 4. September 2003 - OVG 6 S 284.03 - InfAuslR 2004, 68 ff.).

Danach ist es dem Antragsteller zu 1. derzeit nicht zuzumuten, das Bundesgebiet zu verlassen, um das erforderliche Visum einzuholen. Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen nicht das Interesse der Antragsteller an einem ununterbrochenen Fortbestehen ihrer familiären Lebensgemeinschaft. Zwar hat der Antragsteller zu 1. gegen ausländerrechtliche Vorschriften verstoßen, weil er ohne das für den von ihm von vornherein beabsichtigten Daueraufenthalt erforderliche Visum eingereist ist. Schwer wiegt insbesondere, dass er durch unrichtige Angaben über seine Identität sowie die Unterdrückung seines nigerianischen Passes die Behörden hartnäckig getäuscht, dadurch einen über zweijährigen illegalen Aufenthalt erzwungen, durch die erforderlichen Vorführungen bei verschiedenen ausländischen Botschaften erheblichen Verwaltungsaufwand und Kosten verursacht sowie öffentliche Leistungen in erheblichem Umfang erschlichen hat. Aber diese gegen den weiteren ununterbrochenen Aufenthalt des Antragstellers zu 1. sprechenden öffentlichen Interessen überwiegen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht das verfassungsrechtlich geschützte Interesse der Antragsteller an einem weiteren Fortbestehen der familiären Lebensgemeinschaft. Die Antragstellerin zu 3. hat glaubhaft dargelegt, dass sie an einem Borderline-Syndrom leidet. Würde die Antragstellerin zu 3. durch eine, sei es auch nur vorübergehende, Ausreise ihres Lebenspartners, des Antragstellers zu 1., von diesem getrennt, würde dies nach dem übereinstimmenden Inhalt obiger Bescheinigungen und Erklärungen, soweit sie sich dazu verhalten, für sie eine erhebliche psychische Belastung mit Dekompensationserscheinungen bedeuten, die ihre ohnehin beschränkte Fähigkeit zur Betreuung ihrer Kinder, die nach der sachlichen und nachvollziehbaren Schilderung der Familienhelferin vom 19. Oktober 2004 durch erhebliche Erziehungs- und Unterstützungsleistungen des Antragstellers zu 1. ergänzt wird, ernsthaft in Frage stellen. Es wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit für die drei in der Familie lebenden Kinder und somit auch für die Antragstellerin zu 2. ein schwer wiegender Erziehungs- und Betreuungsnotstand zu erwarten, den auch die nicht kompensatorisch angelegte Familienhilfe nicht ausgleichen könnte (vgl. Beschreibung der familiären Situation durch die Familienhelferin vom 19. Oktober 2004).