VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 23.02.2005 - B 5 K 04.30117 - asyl.net: M7401
https://www.asyl.net/rsdb/M7401
Leitsatz:
Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, zwingende Gründe, Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Unverzüglichkeit, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Vergewaltigung, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 14. Mai 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er wird deshalb gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufgehoben. Von einem Widerruf der durch Bescheid vom 8. April 1998 ausgesprochenen Flüchtlingsanerkennung der Klägerin (§ 51 Abs. 1 AuslG) gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist trotz Wegfalls der politischen Verfolgung abzusehen, da sich die Klägerin auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Wie das Bundesamt zu Recht im streitgegenständlichen Bescheid festgestellt hat, findet seit der grundlegenden Änderung der politischen Situation im Kosovo ab Juni 1999 keine politische Verfolgung von Kosovo-Albanern (mehr) statt, da der jugoslawische Staat nach dem vollständigen Rückzug seiner bewaffneten Kräfte und der Stationierung der KFOR-Truppen dort keine Staatsgewalt mehr ausüben kann.

Der streitgegenständliche Bescheid ist nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht unverzüglich i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfolgt ist. Denn nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein unverzüglicher Widerruf allein im öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht (mehr) zustehenden Rechtsstellung. Ein nicht unverzüglicher Widerruf verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, da ihr aus einer verzögerten Reaktion des Bundesamtes keine schützenswerte Vertrauensposition erwächst (vgl. z.B. BVerwG Beschl. vom 27.6.1997 Az.: 9 B 280.97 und Beschl. vom 12. Februar 1998, Az.: 9 B 654/97).

Da der Klägerin jedoch eine Rückkehr in das Gebiet des ehemaligen Verfolgerstaates i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG unter humanitären Gesichtspunkten nicht zuzumuten ist, ist ein Widerruf ihrer Flüchtlingsstellung ausgeschlossen.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist (zwingend) von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Diese Vorschrift ist dem Art. 1 c Nrn. 5 und 6 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GK) nachgebildet. Der unbestimmte, gerichtlich voll überprüfbare Rechtsbegriff "zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe" lässt die Berücksichtigung humanitärer Gesichtspunkte zu. Dabei kommen aber ausschließlich Gründe in Betracht, die ihre Ursache in einer früheren Verfolgung haben. Sinn der Vorschrift ist es, der psychischen Sondersituation Rechnung zu tragen, in der sich ein Ausländer befindet, der ein besonders schweres und nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. Somit ist eine zeitliche Fernwirkung der früher erlittenen Verfolgung zu berücksichtigen. Wirkt die Verfolgung etwa in einer feindlichen Haltung der Bevölkerung nach oder hat sie bleibende psychische Schäden verursacht, kann die Rückkehr unzumutbar sein (Renner, AuslG, 7. Auflage, zu § 73 AsylVfG, RdNr. 10 ­ 13).

Das Gericht ist der Überzeugung, dass es der Klägerin auf Grund ihrer Erlebnisse, die zur Flucht und zur Feststellung des Vorliegens von § 51 Abs. 1 AuslG geführt haben, unzumutbar ist, in den Kosovo zurückzukehren, da sie auf Grund der dort erlittenen sexuellen Übergriffe durch serbische Polizisten Angstzuständen und schweren psychischen Problemen ausgesetzt wäre. So ergibt sich aus den vom Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg eingeholten fachpsychiatrischen Gutachten vom 11. Oktober 1996 und dem Glaubwürdigkeitsgutachten vom 18. Oktober 1996, dass die Klägerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einem ängstlich depressiven Syndrom erheblichen Ausmaßes gelitten hat. Auch wenn diese Begutachtungen bereits aus dem Jahr 1996 stammen, ergibt sich für das Gericht nach der Anhörung in der mündlichen Verhandlung sowie des in der mündlichen Verhandlung übergebenen ärztlichen Attestes, dass die Klägerin das durch die Vergewaltigung erlittene Trauma nicht überwunden hat und die konkrete Gefahr besteht, dass sich die Traumatisierung der Klägerin bei einer Rückkehr in ihren Heimatstaat verschlimmert und sie damit schweren psychischen Problemen ausgesetzt wäre.