VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 26.10.2005 - 4 B 181/05 - asyl.net: M7410
https://www.asyl.net/rsdb/M7410
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerber, Auslandsreise, räumliche Beschränkung, unbillige Härte, Beerdigung, Pass, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit, Vorwegnahme der Hauptsache
Normen: AsylVfG § 58 Abs. 1; VwGO § 123; AsylVfG § 65 Abs. 2
Auszüge:

Das vorläufige Rechtsschutzbegehren nach § 123 VwGO hat mit seinem Hauptantrag Erfolg. Streitgegenstand ist nach der Antragstellung, über die das Gericht gemäß § 88 VwGO nicht hinausgehen darf, ausschließlich die nachgesuchte Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des zugewiesenen Aufenthaltsbereichs nach § 58 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG).

Der Antragstellerin kann das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag nicht deshalb abgesprochen werden, weil sie außer der von ihr nachgesuchten Erlaubnis zum Verlassen des ihr zugewiesenen Aufenthaltsbereichs auch noch zusätzlich der durch russische Behörden zu erteilenden Einreiseerlaubnis in die Russische Föderation bedarf. Denn es bleibt der Antragstellerin unbenommen, die Erteilung einer solchen - außerhalb der Zuständigkeit deutscher Behörden und Gerichte stehenden - Einreiseerlaubnis bei den russischen Behörden zu beantragen (ebenso VGH Kassel, Beschluss vom 13.3.1990, NVwZ-RR 1990, S. 514). In dieser Hinsicht hat sich die Antragstellerin auch eingelassen und auf die Kontaktierung der russischen Auslandsvertretungen sowie entsprechende mündliche Zusagen verwiesen. Ebenso wenig kann ihr das Rechtsschutzbedürfnis deshalb abgesprochen werden, weil sie über die streitbefangene Erlaubnis nach § 58 AsylVfG hinaus jedenfalls zur Ermöglichung der Wiedereinreise ersichtlich der - hier nicht streitgegenständlichen - Ausstellung eines geeigneten Passersatzes bedarf (ebenso VGH Kassel, ebd.). Denn der Antragstellerin bleibt es unbenommen, bei der Antragsgegnerin die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 6 Satz 1 Nr. 4, Satz 2, §§ 5, 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) zu beantragen. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage hat der Verordnungsgeber mit diesen Vorschriften Auslandsreisen von Asylbewerbern grundsätzlich wieder ermöglicht (vgl. zur früheren Rechtslage: VG Meiningen, Beschluss vom 24.5.1995, AuAS 1995, S. 174).

Grundsätzlich darf eine einstweilige Anordnung die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Ausnahmsweise darf allerdings das Vorwegnahmeverbot durchbrochen werden, wenn der Hauptsacherechtsschutz zu spät käme und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde, die sich auch bei einem späteren Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht mehr abwenden oder ausgleichen ließen. In derartigen Fällen ist die Vorwegnahme der Hauptsache geboten, weil andernfalls die durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes nicht gewährleistet wäre (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rdnr. 212). So verhält es sich hier. Der Antragstellerin ist ein Verweis auf ein Klageverfahren nicht zuzumuten, weil dieses zu spät käme, um dem Anlass ihres Begehrens Rechnung zu tragen.

Das vorläufige Rechtsschutzgesuch ist auch begründet.

Die Antragsstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nach der von ihr vorgelegten eidesstattlichen Versicherung vom 25. Oktober 2006 steht die Beisetzung ihrer Schwester in Moskau unmittelbar bevor.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin darf der Antragstellerin die von ihr am 25. Oktober 2005 nachgesuchte Erlaubnis nach § 58 Abs. 1 AsylVfG zum vorübergehenden Verlassen des Geltungsbereichs der Aufenthaltsgestattung nicht vorenthalten.

Im Gegensatz zu der im Anhörungsschreiben vom 17. Oktober 2005 von der Antragsgegnerin geäußerten Rechtsauffassung gilt die Vorschrift des § 58 Abs. 1 AsylVfG auch für Auslandsreisen des Asylbewerbers. Dies folgt bei einer systematischen Auslegung aus § 65 Abs. 2 AsylVfG, der die Ausländerbehörde ermächtigt, dem Asylbewerber den von ihm nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylVfG der Behörde überlassenen Reisepass vorübergehend auszuhändigen, wenn dies in den Fällen des § 58 Abs. 1 AsylVfG "für eine Reise" erforderlich ist, da die Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung, mit der der Asylbewerber gemäß § 64 Abs. 1 AsylVfG seiner inländischen Ausweispflicht genügt, nach § 64 Abs. 2 AsylVfG nicht zum Grenzübertritt berechtigt (ebenso zur früheren Rechtslage nach § 25 Abs. 1 AsylVfG a.F.: BVerwG, Beschluss vom 23.8.1985, NVwZ 1986, S. 133). Entsprechendes folgt aus den oben zitierten Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthV.

Die Antragstellerin hat nach § 58 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG auch einen Anspruch auf Erteilung der nachgesuchten Erlaubnis im tenorierten Umfang. Nach dieser Vorschrift ist die Erlaubnis zwingend zu erteilen, wenn ihre Versagung für den Asylbewerber eine unbillige Härte bedeuten würde. Das gerichtlich voll überprüfbare Tatbestandsmerkmal der "unbilligen Härte" (vgl. VGH Kassel, ebd.) läge hier vor, wenn der Antragstellerin die Möglichkeit zur Teilnahme an der Beerdigung ihrer am 24. Oktober 2005 in Moskau verstorbenen Schwester verwehrt würde.